IU Bachelorarbeit – Bewertetes Beispiel 2024
[IU Studiengang Soziale Arbeit – Note 2,3]
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Was folgt, ist das erste Beispiel einer IU-Bachelorarbeit – hier auf dem Blog.
Genau, du hast richtig gelesen.
Wir stellen dir eine bewertete Beispiel-Bachelorarbeit (Note 2,3) aus dem IU-Studiengang Soziale Arbeit vor.
Jetzt liegt es an dir, mach was daraus.
Nutze die vorgestellte IU-Bachelorarbeit als Beispiel für dein Studium – ganz ohne Haken. 🥳
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Bewertete IU-Bachelorarbeit – Studiengang Soziale Arbeit
Fernhochschule: IU – Internationale Hochschule
Studiengang: Soziale Arbeit
Bachelorarbeit: Heimerziehungsarten – Eine analytische Betrachtung von stationärer Heimerziehung und familienanaloger Erziehung in einer außerfamiliären Einrichtung
Abgabedatum: März 2024
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Zur Info: Die Formatierung der vorgestellten Arbeit entspricht nicht dem Original. Im Bereich Danksagung wurden diverse Namen durch „…“ ersetzt. Bilder der originalen Bachelorarbeit wurden zum Teil nicht verwendet.
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Danksagung
Im Folgenden möchte ich mich bei allen Personen bedanken, die mich bei meiner Bachelorarbeit unterstützt haben.
Ich beginne mit …, die mir vor allem in der Phase der Literaturrecherche eine große Motivationsunterstützung waren und meine Arbeit mehrmals Korrektur gelesen haben. Besonders hervorheben möchte ich hier …, die nicht nur meine Bachelorarbeit, sondern auch alle anderen schriftlichen Ausarbeitungen während meines Studiums Korrektur gelesen hat.
Auch möchte ich mich bei meinen Freunden, Teammitgliedern und Ex-Teammitgliedern (und auch wieder bei …) bedanken, die mich während meines Studiums, vor allem in der Bachelorarbeit, seelisch immer wieder aufgebaut und gemeinsam Brainstorming betrieben haben sowie gemeinsam mit mir Themen durchgegangen sind. Ohne sie wären die folgenden Seiten nicht zu Stande gekommen sein.
Meinem Betreuer … gilt ein besonderer Dank, da er mir immer ‚Rede und Antwort‘ gestanden und die Angst vor der Bachelorarbeit genommen hat.
Zum Ende, aber sicherlich für mich die zwei wichtigsten Individuen, gilt der Dank meinen zwei Katzen Mimi und Kitti, die egal, wie müde sie waren, meine ständigen Begleiter, Zuhörer und Motivatoren während des ganzen Studiums waren. Wäre es möglich – sie wären die besten Sozialarbeiterinnen in Hessen (das Wissen haben sie).
Abstract
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es aufzuzeigen, welche Unterschiede es zwischen stationärer Heimerziehung und der familienanalogen Erziehung in einer außerfamiliären Einrichtung gibt. In der Ausarbeitung findet eine analytische Betrachtung statt. Folgende Forschungsfrage wird dabei handlungsleitend sein: „Stationäre Heimerziehung oder familienanaloge Erziehungshilfe, welche der beiden Formen der professionellen Fremdbetreuung haben den positiveren Einfluss im Hinblick auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen?“ Um die Forschungsfrage zu beantworten, wird folgend eine Literaturarbeit / Sekundärforschung angewendet und unter anderem mit den folgenden Suchbegriffen in Google Scholar, der Online Bibliothek von Springer sowie der Online Bibliothek der IU nach wissenschaftlicher Literatur gesucht: stationäre Heimerziehung, familienanaloge Erziehung, Erziehung, Beziehung, Bindung, Bindungstheorie, kindliche Entwicklung, Bindungssystem, Fürsorgesystem, Bindungsstörung, Beziehungsarbeit, Definition Familie, Kritik an familienanaloger Erziehung, Kritikpunkte Heimerziehung, Praxisbeispiele stationäre Heimerziehung, Praxisbeispiele familienanaloge Erziehung, Kleinstkinderheime, Elementarpädagogik. Auffällig ist, dass die wissenschaftlichen Informationen zur familienanalogen Erziehung verhältnismäßig alt sind. Daher lässt sich hier eine Forschungslücke vermuten. Innerhalb der Bachelorarbeit wird deutlich, dass sowohl positive Bindungen als auch positive Beziehungen, unabhängig von ihrem Wohnort, für junge Menschen in ihrer Entwicklung wichtig sind, beide sind in der stationären Heimerziehung und in der familienanalogen Erziehung theoretisch unterschiedlich. Jedoch fällt auf, dass Bindungen und Beziehungen der jungen Menschen zu den pädagogischen Fachkräften zum einen von Personen und zum anderen von den Vorgaben der jeweiligen Institutionen abhängig sind. Tiefgreifendere und neuere Forschungen im Bereich der familienanalogen Erziehung könnten hier zu mehr Aufklärung führen.
Schlüsselwörter: familienanaloge Erziehungshilfe, stationäre Heimerziehung, Beziehung, Bindung, Praxisbeispiel, Kritikpunkte
The aim of this thesis is to show the differences between stationary education in a children´s home and family-analogous education in a non-family institution. So it’s an analytical view. To this end, the following research question is asked: „Residential care or family-analogue educational support, which of the two forms of professional external care has the more positive influence on the development of children and young people?“ In order to answer the research question, the author chose literature work / secondary research as a method and searched for scientific literature in Google Scholar, the online library of Springer, the online library of IU with the following search terms, among others: stationary education in a children´s home, family-analogous education, education, relationship, bonds, bonding theory, child development, bonding system, care system, bonding disorder, relationship work, definition of family, criticism of family-analogue education, points of criticism of residential education, practical examples of stationary education in a children´s home, practical examples of family-analogue education, very young children’s homes, elementary education. It is striking that the scientific information on family-analogous education is relatively old. Therefore, a research gap can be assumed here. Within the bachelor thesis it becomes clear that both positive bonds and positive relationships, regardless of their place of residence, are important for young people in their development, both are theoretically different in stationary education in a children´s home and in family-analogous education. However, it is noticeable that the bonds and relationships between young people and pedagogical professionals depend on people as well as on the requirements of the respective institutions. More in-depth and recent research in the field of family-analogous parenting could lead to more enlightenment here.
Keywords: family-analogous educational assistance, stationary education a children´s home, relationship, bonding, practical example, points of criticism
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Abstract
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Einführung in die stationäre Heimerziehung
3. „Demokratie in der Heimerziehung“ – Erläuterung des Praxisprojekts in Schleswig-Holstein
3.1 Das Praxisprojekt
3.2 Zweck des Projektes
3.3 Ergebnisse der „Wohngruppe Callisenstraße“
3.4 Ergebnisse des „Kinder- und Jugendhilfe-Verbundes“
4. Einführung in die familienanalogen Erziehungshilfen
5. Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte in den stationären Heimerziehungen und
familienanalogen Erziehungshilfen
5.1 Aufgaben in der stationären Heimerziehung
5.2 Aufgaben in der familienanalogen Erziehungshilfe
6. Die Bindungstheorie nach Bowlby
6.1 Grundlagen der Bindungstheorie
6.2 Bindung und Beziehung im Kontext der kindlichen Entwicklung
6.3 Bindungssystem und Fürsorgesystem
6.4 Bindungsstörung
6.5 Beziehungsarbeit im professionellen Kontext der sozialen Arbeit
7. Vergleiche zwischen dem Familienleben, dem Leben in einem Heim und der familienanalogen
Erziehungshilfe
8. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang 1
Anhang 2
Eidesstattliche Erklärung
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Curriculum, eigene Darstellung in Anlehnung an „Curriculum“ (Knauer et al., 2012, S. 42)
Tabelle 2 Phasen der Bindungsentwicklung nach Bowlby, eigene Darstellung in Anlehnung an Tab. 8.1 (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 124)
Tabelle 3 Ablauf des „Fremde-Situations-Tests“. (Nach Ainsworth et al. 1978), eigene Darstellung in Anlehnung an Tab. 8.2 (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 126)
Abkürzungsverzeichnis
AG Arbeitsgemeinschaft
bez. bezüglich
BfArM Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
BMG Bundesministerium für Gesundheit
bspw. beispielsweise
bzw. beziehungsweise
DDR Deutsche Demokratische Republik
d. h. das heißt
etc. et cetera
ICD International Classification of Diseases
IWM Internal Working Model
KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz
KJHV Kinder- und Jugendhilfe-Verbund
KKG Kuratorium für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen
SGB Sozialgesetzbuch
WHO World Health Organization
z. B. zum Beispiel
1. Einleitung
Die Autorin arbeitet seit Oktober 2023 in einer Wohngruppe der stationären Heimerziehung mit acht Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren. Sie hat sich mit der stationären Heimerziehung beschäftigt und stellte fest, dass in diesen Einrichtungen die Bindung bzw. die pädagogische Beziehung zwischen Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften¹ differenzierter gestaltet wird als in der familienanalogen Erziehungshilfe. Daher lautet die Forschungsfrage: „Stationäre Heimerziehung oder familienanaloge Erziehungshilfe, welche der beiden Formen der professionellen Fremdbetreuung haben den positiveren Einfluss im Hinblick auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen?“
Laut Kurz-Adam (2019, S. 329) müssen die pädagogischen Fachkräfte für professionelles Handeln eine Balance zwischen Nähe und Distanz finden. Professionelle Arbeit im Bereich der stationären Heimerziehung gelingt durch die Beziehungsgestaltung auf der Grundlage von Empathie. Dies kann eine angemessene Distanz erschweren, da eine unreflektierte Form des Einfühlungsvermögens eigene Bedürfnisse realisiert und dadurch Grenzen überschritten werden. Unter Wahrung einer Distanz im professionellen Handeln – durch Wissen und Reflexion – kann eine Beziehung ermöglicht werden, da die eigene Motivation bezüglich der Beziehungsgestaltung kritisch hinterfragt wird (Behringer, 2021, S. 89). Nähe und Distanz sind für professionelles Handeln zwar wichtig, jedoch beinhalten sie auch einige negative Aspekte. Dadurch, dass in der stationären Heimarbeit die pädagogischen Fachkräfte nach einem flexiblen Schicht-Dienstplan arbeiten, also nicht rund um die Uhr für die Kinder und Jugendlichen² erreichbar sind, müssen die Kinder sich mit ihren Problemen an pädagogische Fachkräfte wenden, denen sie weniger vertrauen. Für Kinder und Jugendliche sind Wohngruppen ihr neues ‚Zuhause‘. Im Gegensatz zu den pädagogischen Fachkräften können sie es nicht nach vorgeschriebener Arbeitszeit verlassen (Gaßmöller, 2022, S. 103 – 109). Im Unterschied zur stationären Heimerziehung gibt es auch die familienanalogen Erziehungshilfen. Diese Form der Heimerziehung besitzt diverse andere Betitelungen. Sie sind ähnlich wie die Wohngruppen in der stationären Heimerziehung, allerdings leben hier zwei pädagogische Fachkräfte mit den Kindern bzw. Jugendlichen in einer familiären Umgebung. In dieser Form der Erziehungshilfe sind die pädagogischen Fachkräfte für die Kinder und Jugendlichen ‚rund um die Uhr‘ verfügbar und nehmen den Platz der Erziehungsberechtigen ein. Die pädagogischen Fachkräfte ersetzen jedoch nicht die leiblichen Erziehungsberechtigen der Kinder und Jugendlichen. Auch diese Form der Unterbringung hat sowohl Befürworter als auch Kritiker, die auf der einen Seite beschreiben, dass durch das direkte Zusammenleben die Beziehung der pädagogischen Fachkräfte mit den Kindern bzw. den Jugendlichen enger ist. Allerdings wird den Kindern auf der anderen Seite ein Szenario vorgetäuscht, welches nicht aufrechterhalten werden kann, da auch in dieser Form der Betreuung ein Wechsel durch z. B. Neuaufnahme oder Weggang von Kindern und Jugendlichen stattfindet (Marks et al., 2023, S. 111 -114).
Die vorliegende Bachelorarbeit behandelt verschiedene Aspekte im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere in Bezug auf die stationäre Heimerziehung sowie familienanaloge Erziehungshilfen. Dabei wird auf die Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte in diesen Bereichen eingegangen. Ein weiterer Schwerpunkt dieser Arbeit ist das Praxisprojekt in Schleswig-Holstein, das demokratische Prinzipien in die Heimerziehung integriert und die Partizipation der betreuten Kinder und Jugendlichen fördert. Des Weiteren wird die Bindungstheorie nach John Bowlby behandelt, insbesondere werden hierbei Aspekte wie Bindung und Beziehung, Bindungssysteme, Fürsorgesysteme und mögliche Bindungsstörungen beleuchtet.
Abschließend werden Vergleiche zwischen dem traditionellen Familienleben, dem Leben in einem Heim und der familienanalogen Erziehungshilfe gezogen, um Einblicke in die Vor- und Nachteile der verschiedenen Betreuungsformen zu geben und Ansätze für mögliche Entwicklungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe aufzuzeigen.
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¹ In den unterschiedlichen Quellen werden verschiedene Begriffe für pädagogische Fachkräfte verwendet. In der vorliegenden Arbeit werden diese Begriffe synonym verwendet.
² In den unterschiedlichen Quellen werden verschiedene Begriffe für Kinder und Jugendliche verwendet. In der vorliegenden Arbeit werden diese Begriffe ebenfalls synonym verwendet. Kinder und Jugendliche sind nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 – 2 SGB VIII Begriffsbestimmungen in einem Alter bis zu 18 Jahren
2. Einführung in die stationäre Heimerziehung
Bei genauer Betrachtung der stationären Heimerziehung fällt auf, dass sie laut Engelbracht (2018, S. 43 – 46) weit in die Geschichte zurückreicht. Schon in der Antike und seit dem neunten Jahrhundert wurden junge hilfsbedürftige Menschen bspw. in Klöstern aufgenommen. Das Leben der jungen Menschen war damals vorwiegend religiös und von Zwangsarbeit und Bettelei geprägt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Kosteneffizienz ein durchgängiges Merkmal von Heimen und Fürsorgeeinrichtungen. Im 17. Jahrhundert gründete August Hermann Francke das „Hallische Waisenhaus“, der die Idee einer planvollen Erziehung durch religiöse Unterweisung und Arbeit aufgriff. Mit dem Beginn der Industrialisierung änderte sich das Waisenhausprinzip. Viele Einrichtungen waren weiterhin in kirchlicher Trägerschaft, allerdings wurden die Waisenhäuser immer mehr zu Produktionsstätten, in denen die Kinder aus finanziellen Gründen arbeiten mussten (günstige Arbeitskraft). Jedoch verfestigte sich Mitte des 18. Jahrhunderts der Gedanke eines Erziehungskonzeptes mit dem Ziel, mit humanistischen Ideen Menschen zu helfen. Johann Heinrich Pestalozzi war einer der bedeutendsten Fürsprecher der Waisenhauserziehung. Er gründete zwei Erziehungsanstalten und entwickelte hier seine pädagogischen Prinzipien. In der Zeit der Weimarer Republik (1918 – 1933) wandelte sich die öffentliche Ersatzerziehung dahingehend, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf Erziehung erhielten. Durch den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen entwickelte sich ein System der Ersatzerziehung, welches durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (am 01.04.1924 in Kraft getreten) gestärkt wurde. Auch wenn in einigen Erziehungsheimen die Humanisierung voranschritt, war die oben beschriebene Situation auf Grund fehlender finanzieller Mittel der Lebensalltag der Kinder und Jugendlichen, da sie schlecht versorgt, als Arbeitskraft ausgebeutet oder misshandelt wurden. Während der Zeit des Nationalsozialismus hat sich die Kinder- und Jugendfürsorge an dem völkischen Gedankengut orientiert. Nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg wurde das Konzept der Jugendfürsorge aus den 1920er Jahren wieder aufgenommen, ohne dass dieses hinterfragt wurde. Eine große Herausforderung für die Fürsorge stellten die großen sozialen Probleme und die große Anzahl an schutzbedürftigen Kindern dar. Diese drastischen und „geschlossenen Fürsorgeheime“³ mit Großgruppen blieben bis in die 1950er Jahre ein übliches Strukturmerkmal in der Jugendhilfe. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche in Erziehungsheimen wurde erst durch die Heimkampagne erreicht, die sich aus der Studentenbewegung von 1968 / 1969 entwickelt hatte. Klaus Mollenhauer (Engelbracht, 2018, S. 46 zitiert nach Köhler-Saretzki, 2008, S. 20 ff.) war im Anschluss an diese Kampagne maßgeblich an der Entwicklung von Alternativen zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Heimen beteiligt. Das Land und der Landeswohlfahrtsverband Hessen bestellten Mollenhauer als Gutachter. Er befürwortete die Erprobung von Alternativen zur strafenden Unterbringung in Heimen. In der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im Folgenden DDR genannt) wurde die Geschichte der Heimerziehung nicht aufgearbeitet. Auch hier hat sich die moderne Jugendhilfe und Heimerziehung im Laufe der Zeit durch die Heimkampagne entwickelt. (Engelbracht, 2018, S. 43 – 46 zitiert nach Köhler-Saretzki, 2008, S. 20 ff.).
Die Heimerziehung und Jugendhilfe fanden in den Jahren 1990 / 1991 ihren rechtlichen Platz im Sozialgesetzbuch VIII Kinder- und Jugendhilfe (im Folgenden SGB genannt) (Engelbracht, 2018, S. 46). Dies kann als entscheidender Schritt in der Kinder- und Jugendhilfe betrachtet werden. Die oben genannte Erziehung hat sich so gewandelt, dass im 21. Jahrhundert stationäre Einrichtungen, wie z. B. Heime, nur eine von vielen Möglichkeiten für die Soziale Arbeit sind. In der Heimerziehung wurden die zentralen Forderungen der Heimkampagne durch die Studentenbewegung umgesetzt. Darunter fallen unter anderem gewaltfreie Erziehung, Fachkräfteangebot und Elternarbeit⁴ (Engelbracht, 2018, S. 46).
Stationäre Erziehungshilfen gestalten sich als ein Sortiment von erzieherischen Hilfen, die im Angebots- und Leistungskatalog des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (im Folgenden KJHG genannt) im SGB VIII verankert sind (Gaßmöller, 2022, S. 79). Die Erziehungshilfen gliedern sich auf in die Tag- und Nachtunterbringung von jungen Heranwachsenden in unterschiedlich betreuten Wohnformen. Die Unterbringungsform richtet sich nach dem Individuum und kann vorübergehend oder eine dauerhafte Form sein (§ 34 SGB VIII). Stationäre Erziehungshilfen sind eine der ältesten Formen der gesellschaftlich organisierten Hilfen für junge Heranwachsende. Sie spiegeln das Interesse der Gesellschaft sowohl an einer gelingenden Erziehung als auch an einem gelingenden Aufwachsen der nachfolgenden Generationen wider (Gaßmöller, 2022, S. 79). Gemäß § 1 Abs. 2 SGB VIII des KJHG haben die Eltern das natürliche Recht und die Pflicht, ihre Kinder und Jugendlichen zu erziehen. Dabei haben die Erziehungsberechtigungen freie Hand in der Wahl der Erziehungsmethoden, allerdings stehen sie durch § 1 Abs. 2 SGB VIII in der Verantwortung gegenüber ihren Kindern und Jugendlichen. Können sie dieser nicht nachkommen, muss der Staat⁵ das Wohl des Kindes sichern: „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“ § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII (Gaßmöller, 2022, S. 79 – 80).
Die Gründe, warum junge Menschen in die stationäre Erziehung gelangen, können in drei Punkte aufgeteilt werden (Gaßmöller, 2022, S. 79 – 80). Es gibt zum einen den Förderbedarf bei Nicht- Sicherstellung des Kindeswohls. Dies betrifft die Erziehungsberechtigten, die aus individuellen Gründen in ihrer Erziehung den jungen Menschen nicht mehr gerecht werden und die daher einen Rechtsanspruch auf Unterstützungsleistungen zur Erziehung in unterschiedlicher Form haben, bereitgestellt durch den Staat. Zum anderen ist die tatsächliche Kindeswohlgefährdung ein weiterer Punkt für die Unterbringung der jungen Menschen in stationären Erziehungshilfen. Der Staat hat zur Sicherstellung des Kindeswohls gegenüber den Personensorgeberechtigten das Eingriffsrecht, wenn diese eine Abwendung von Gefahren gegenüber dem Kind nicht gerecht werden können oder wollen. Im § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII steht: „Im Sinne dieses Buches ist Personensorgeberechtigter, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge zusteht“. Trifft dies zu, kann der Staat Maßnahmen zur Abwendung der Gefährdung auch gegen den Willen der Personensorgeberechtigten durchsetzen, z. B. durch die Unterbringung der jungen Menschen in einer stationären Erziehungshilfe. Der dritte Punkt bezieht sich auf junge Menschen, die ein normabweichendes Verhalten aufzeigen. Diese Verhaltensweisen begründen die stationäre Erziehungshilfe, da sie Eigen- und / oder Fremdgefährdung und die Gefährdung des Kindeswohls aufgrund eines individuellen Erziehungsdefizits darlegen. Beispiele hierfür sind Schulverweigerung, Aggression oder Suchtmittelmissbrauch. Dieses Verhalten wird von der Gesellschaft nicht toleriert bzw. als gesellschaftsschädigend definiert, wodurch ein professioneller erzieherischer Bedarf entsteht (Gaßmöller, 2022, S. 83 – 84). Die Kinder- und Jugendhilfe ist nicht nur rechtlich, sondern auch sozioökonomisch einzuordnen. Aus den genannten Punkten ergibt sich, dass der familiäre Hintergrund in betroffenen Familien problematisch ist, bspw. aufgrund von Instabilität oder geringem sozialem Status. Es ist auch davon auszugehen, dass junge Menschen mit schwierigen Verhaltensweisen die eigene Familie überfordern (Behringer, 2021, S. 63). Persönliche Probleme, wie psychische Störungen oder Suchterkrankungen und dadurch eingeschränkte Erziehungs- und Betreuungskompetenzen der Sorgeberechtigen, als auch traumatische Erfahrungen der jungen Menschen können zur Notwendigkeit der Maßnahmen beitragen. Es kann festgehalten werden, dass die stationäre Kinder- und Jugendhilfe zwei Kernaufgaben hat: zum einen jungen Menschen zu helfen, bei denen die Versorgung und Erziehung aufgrund von familiären Bedingungen nicht sichergestellt ist und zum anderen die Hilfe in Form der stationären Kinder- und Jugendhilfe, die Benachteiligungen ausgleicht und gerechte Lebensverhältnisse für junge Menschen gewährleistet (Gaßmöller, 2022, S. 85 – 86).
Die stationären Erziehungshilfen erfordern einerseits ein pädagogisches Anerkennungsverhältnis und andererseits eine kompensatorische Erziehung (Gaßmöller, 2022, S. 101). Im Gegensatz zur familiären Erziehung können sich die pädagogischen Fachkräfte nicht auf eine biographisch entstandene Beziehung berufen. Stattdessen müssen sie durch professionelles Handeln Beziehungen und pädagogische Autoritätsverhältnisse entwickeln (Gaßmöller, 2022, S. 101).
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³ Laut Duden online ist die Bedeutung eines Fürsorgeheims: „Heim der öffentlichen Fürsorge (2b)“ (Dudenredaktion, „Fürsorgeheime“ auf Duden online, n.d.)
⁴ In den unterschiedlichen Quellen werden verschiedene Begriffe für Eltern bzw. Erziehungsberechtigen verwendet. In der vorliegenden Arbeit werden diese Begriffe synonym verwendet.
⁵ Der Begriff Staat wird hier als Überbegriff für die einzelnen Institutionen, Instanzen und Abteilungen verwendet.
3. „Demokratie in der Heimerziehung“ – Erläuterung des Praxisprojekts in Schleswig-Holstein
Um die theoretischen Grundlagen mit den Vor- und Nachteilen des vorherigen Kapitels in der Praxis erkenntlich zu machen, wird das Praxisprojekt aus Schleswig-Holstein nachfolgend angeführt. Für die Elementarpädagogik gibt es verschiedene Bezeichnungen wie Frühpädagogik, Kleinkindpädagogik oder Vorschulpädagogik. Diese Disziplin konzentriert sich auf die Altersgruppe der unter Sechsjährigen, ihre Erziehungsberechtigten und die zuständigen Institutionen wie Kinderkrippe, Kindergarten oder Vorschule mit ihren spezifischen Bildungsaufgaben. Für die Pädagogik der frühen Kindheit beginnt Bildung mit der Geburt, in der das Kind von Anfang an durch Beobachtung lernt und ähnliche Erwartungen an Erwachsene und an deren Verhaltensweisen hat. Bereits vor der Geburt haben die Erziehungsberechtigten Vorstellungen, Hoffnungen und Rollenerwartungen an das Kind (Stangl, 2024).
Die folgende Abbildung aus (Statistisches Bundesamt (Destatis), 2024)⁶ zeigt, dass auch Kinder unter einem Jahr in der Heimerziehung leben. Somit ist die Elementar- bzw. Frühpädagogik auch für diesen Bereich von Bedeutung, auch wenn in der Literatur häufig von Kindertagesstätten gesprochen wird.
Abb. 1 Junge Menschen, die in Heimen oder Pflegefamilien aufwuchsen 2021
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„Zur Info: Um Urheberrechtsprobleme zu vermeiden, wird die ursprüngliche Abbildung hier nicht dargestellt. Es handelt sich um das Diagramm „Junge Menschen, die in Heimen oder Pflegefamilien aufwuchsen 2021“ von Destatis“
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Abbildung 1 Junge Menschen, die in Heimen oder Pflegefamilien aufwuchsen 2021 (Statistisches Bundesamt (Destatis), 2024)
Wenn eine Online-Suche nach „Elementarpädagogik“ durchgeführt wird, besteht die Möglichkeit, ein Praxisprojekt (2011 – 2012) aus Schleswig-Holstein zu finden (Knauer et al., 2012). Im Folgenden wird eine ausführliche Erläuterung zum Demokratieverständnis in der Heimerziehung gegeben.
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⁶ Freigabe zur Nutzung der Abbildung in Anhang 1
3.1. Das Praxisprojekt
Schleswig-Holstein setzt seine langjährige Tradition der Demokratieförderung in Jugendhilfe und Jugendpolitik fort. Durch den Bericht von Knauer et al. erhält man einen Überblick über die Erkenntnisse aus dem Modellprojekt „Demokratie in der Heimerziehung“, das von 2011 bis 2012 durchgeführt wurde. Die Heimerziehung ist ein Bereich, in dem eine gesellschaftliche Beteiligung besonders notwendig, aber auch besonders schwierig ist, diese umzusetzen. Kinder und Jugendliche leben dort ‚rund um die Uhr‘ und haben oft keine andere Wahl, als in der stationären Jugendhilfe aufgenommen zu werden. Die Umsetzung einer partizipativen Heimerziehung ist schwierig, da die Kinder und Jugendlichen häufig mit ihren eigenen Lebensproblemen beschäftigt sind und wenig Interesse an Beteiligungsprozessen zeigen. Obwohl es bereits gute Praxiskonzepte für partizipatives Arbeiten in der Heimerziehung gibt, bleibt die Umsetzung dieser Idee eine große Herausforderung. Viele Einrichtungen zögern, sich auf verbindliche Entwicklungsschritte einzulassen (Knauer et al., 2012, S. 7). Vor diesem Hintergrund hat Schleswig-Holstein das Projekt „Demokratie in der Heimerziehung“ initiiert. Es soll darlegen, dass eine Beteiligung innerhalb der Heimerziehung realisierbar ist und eine positive Wirkung entfalten kann. Regionale Einrichtungen der Heimerziehung sollten exemplarisch bei der Umsetzung der Partizipation unterstützt werden. Es sollte gezeigt werden, dass ‚normale‘ Einrichtungen in der Lage sind, sich diesen schwierigen Aufgaben erfolgreich zu stellen. Das Projekt „Demokratie in der Heimerziehung“ verfolgte verschiedene Ziele, die weiter unten aufgeführt werden. Die schleswig-holsteinische Demokratiekampagne wurde um die Aspekte der Kinder- und Jugendhilfe erweitert, insbesondere für junge Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, im elterlichen Haushalt zu leben. Die daraus resultierenden bisherigen Erfahrungen wurden auf ein neues Betätigungsfeld übertragen. Ausgewählte Bereiche des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“ (Knauer et al., 2012, S. 7) sollten als tragende Säulen für das neue Projekt dienen. Die Zusammenführung und der Austausch von beteiligten Einrichtungen und weiteren Institutionen gestaltete sich laut dem Bericht schwierig, da bisher wenige Ideen und Erkenntnisse zur Beteiligung in der Heimerziehung vorhanden waren. Schleswig-Holstein wollte mit diesem Projekt über die gängige Praxis der anderen Bundesländer hinausgehen. Ziel war es, die verpflichtende Einführung von Beteiligungsmodellen zunächst in fünf Einrichtungen zu gewährleisten. Neue fachliche Impulse in der Heimerziehung sollten durch die Entwicklung und Umsetzung von Beteiligungsprojekten gesetzt werden. Der Alltag in den Einrichtungen sollte neu betrachtet werden, um innovative Konzepte für mehr Dialog und Beteiligung zu entwickeln. Im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens wurden verschiedene Institutionen ausgewählt, die an der Konzeption der Partizipationsprojekte mitwirken sollten. Diese Institutionen wurden von Fachreferenten unterstützt. Aufgrund des Umfangs werden hier nur zwei der fünf teilnehmenden Institutionen vorgestellt (Knauer et al., 2012, S. 33 – 45). Mehr Informationen über das Praxisprojekt sind im Anhang 2 nachzulesen.
3.2 Zweck des Projektes
Ziel war es, dass jede Einrichtung ihren individuellen Weg zu mehr Partizipation geht und Fachkräfte, Leitungskräfte und Träger in diesen Prozess einbezogen werden (Knauer et al., 2012, S. 11). Die Bedeutung von Partizipation in der Heimerziehung ist allgemein anerkannt, auch wenn die Umsetzung oft schwierig ist. Dies wurde auch auf einer breit angelegten Fachtagung des Sozialministeriums des Landes Schleswig-Holstein im Jahr 2010 deutlich. Bei dieser Gelegenheit wurde das Modellprojekt vorgestellt und interessierte Träger ermutigt, sich durch eigens erstellte Projektskizzen für die Mitarbeit am Projekt zu bewerben. Interessierte Einrichtungen hatten die Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen. Das Ministerium und die Projektleitung wählten fünf besonders geeignete und vielfältige Projekte aus. Diese Projekte wurden in den Jahren 2011 – 2012 durch die folgende Struktur begleitet. Die Projekte wurden mit einem zweitägigen Auftaktworkshop gestartet. An diesem Workshop nahmen alle fünf Projektteams (einschließlich der Fachkräfte und Einrichtungsleitungen) teil. Hier wurde intensiv an der Partizipationsgrundidee und deren Umsetzung in der Heimerziehung gearbeitet. Die Projektteams präsentierten ihre Ideen und vereinbarten Ziele sowie Rahmenbedingungen für die weitere Vorgehensweise. Anschließend wurden in fünf Einrichtungen Projektteams aus Fach- und Leitungskräften für die praktische Durchführung gebildet. Diese Teams wurden jeweils an fünf Tagen vor Ort im Rahmen einer Fach- und Prozessberatung begleitet. Darüber hinaus trafen sich die Teams der fünf Einrichtungen zweimal zum Projektaustausch, um Erfahrungen und Fortschritte vorzustellen. Diese Struktur ermöglichte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Partizipationskonzept und dessen Umsetzung in der Praxis (Knauer et al., 2012, S. 11 – 15).
Das Projekt „Demokratie in der Heimerziehung“, das vom Institut für Partizipation und Bildung in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Kiel durchgeführt wurde, ist Bestandteil einer komplexen Strategie zur Förderung von Partizipation und zum Schutz von Kinderrechten in Schleswig-Holstein, aber nicht als isoliertes Projekt zu verstehen (Knauer et al., 2012, S. 11 – 15). Die Relevanz dieses Projektes für die Rechte von Kindern und Jugendlichen kann nur vollständig im Kontext der vielfältigen Maßnahmen zur Förderung von Partizipation in Schleswig-Holstein erfasst werden. Da Demokratieerziehung eine Kernaufgabe des Staates ist und Kinder die Demokratie nur durch eine Beteiligung lernen, kommt die Frage auf, wie die politische Bildung von jungen Menschen gefördert werden kann. Vor diesem Hintergrund hat das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein durch die Demokratiekampagne eine beschlossene Strategie entwickelt, um die Beteiligungsmöglichkeiten von jungen Menschen in unterschiedlichen Bereichen zu fördern. Zuerst standen Förderungsmaßnahmen bez. der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auf kommunaler Ebene im Vordergrund. Später wurden Pilotprojekte zur Förderung der Partizipation in Kindertagesstätten unterstützt. Das hier beschriebene Projekt „Demokratie in der Heimerziehung” (Knauer et al., 2012, S. 11 – 15) erweitert das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe um den Begriff der Partizipation. Das Projekt profitiert von der langjährigen Diskussion und Förderung von Partizipationsnetzwerken in Schleswig-Holstein. Die am Anfang der 1990er Jahre gestartete Demokratiekampagne des Landes Schleswig-Holstein bestand aus einem abgestimmten Maßnahmenpaket. Dieses Paket sollte Kommunen, Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen dabei unterstützen, junge Menschen aktiv zu beteiligen. Es ist ein weiteres Beispiel für die umfassenden Bemühungen, die Beteiligung junger Menschen in verschiedenen Bereichen zu fördern. Die Demokratiekampagne geht von der Prämisse aus, dass es sowohl Regelungsinstrumente braucht, die die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen als normative Vorgaben vorsehen, als auch eine Unterstützung bei der Umsetzung der Partizipation. Dies kann durch das Entwickeln von Konzepten oder durch die Ausbildung von Partizipationsfachkräften geschehen, die die Einrichtungen unterstützen können. Die Demokratiekampagne umfasst eine Reihe von Schlüsselkomponenten, die alle dazu beitragen, Partizipation als integralen Bestandteil der Heimerziehung zu etablieren und zu fördern. Zunächst liegt der Schwerpunkt auf der Erarbeitung von Konzepten und der Verfügbarkeit von Materialien für Partizipation. Diese beinhaltet die Erstellung von Leitfäden und Materialien, die den Einrichtungen helfen, Partizipation in ihrer Praxis zu integrieren. Gleichzeitig wird Partizipation rechtlich verankert, d. h., sie wird in den rechtlichen Rahmenbedingungen und Richtlinien der Einrichtungen festgeschrieben. Um die Umsetzung von Partizipationsinitiativen zu erleichtern, werden Partizipationsprojekte in der Regel durch eine Kofinanzierung unterstützt (Knauer et al., 2012, S. 11 – 15).
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Ausbildung von Partizipationsfachkräften (Knauer et al., 2012, S. 11 – 15). Diese Fachkräfte werden geschult, um Partizipation in ihren jeweiligen Institutionen zu fördern und zu unterstützen. Um die Bedeutung von Partizipation hervorzuheben und die Beteiligung zu fördern, werden Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit durchgeführt. Schließlich wird die Vernetzung von Akteuren gefördert, die die Partizipation unterstützen. Dies beinhaltet die Schaffung von Netzwerken und Plattformen, die den Austausch bewährter Praktiken und die Zusammenarbeit fördern. Wichtig ist, dass diese Bausteine nicht isoliert, sondern als Teil einer umfassenden und abgestimmten Strategie zur Förderung der Partizipation betrachtet werden. Erfahrungen aus verschiedenen Handlungsfeldern der Partizipation können sich gegenseitig inspirieren und neue Ideen hervorbringen. Auch wenn der Begriff „Demokratiekampagne“ heute weniger gebräuchlich ist, kann nach zwei Jahrzehnten von einer kontinuierlichen und nachhaltigen Förderung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen durch die „Demokratiekampagne“ in Schleswig-Holstein gesprochen werden. Dieser ganzheitliche und strukturierte Ansatz ermöglicht eine außergewöhnliche Qualität in der Förderung der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, die in Deutschland bisher einzigartig ist. Dies unterstreicht das Engagement und die Innovationskraft Schleswig-Holsteins. Es ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie durch strategische Planung und Umsetzung die Partizipation von Kindern und Jugendlichen gefördert werden kann (Knauer et al., 2012, S. 1 – 12).
Das Projekt „Demokratie in der Heimerziehung“ fand in einem Bereich statt, der historisch gesehen die längste Geschichte der Partizipation hat (Knauer et al., 2012, S. 1 – 12). Janusz Korczak, ein Pionier auf diesem Gebiet, führte bereits vor fast 100 Jahren systematisch Mitbestimmungsrechte in seinen Einrichtungen ein (Knauer et al., 2012, S. 9). Im Jahr 1990 wurde die Partizipation in diesem Bereich mithilfe der Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes weiter gestärkt. Dies zeigt, wie tief verwurzelt und weit entwickelt die Beteiligungspraxis in der Heimerziehung ist. Zunächst wurde mit der Konzeptentwicklung und der Materialbereitstellung zur Partizipation begonnen. Schleswig-Holstein stellte den Heimeinrichtungen Materialien zur Verfügung, die die Möglichkeiten und den Sinn von Partizipation in der Heimerziehung verdeutlichten. Es folgte die gesetzliche Verankerung der Partizipation auf bundesweit verschiedenen Ebenen, zum Beispiel im § 36 SGB VIII oder im neuen Bundeskinderschutzgesetz (Knauer et al., 2012, S. 15).
Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der finanziellen Unterstützung von Partizipationsprojekten (Knauer et al., 2012, S. 15). Die Ausbildung von Fachkräften zum Thema Partizipation folgte, um die Partizipation in der Heimerziehung wirksam zu verankern. Dadurch sind die Fachkräfte in der Lage, den Einrichtungen entsprechende Unterstützung bez. der Umsetzung von Beteiligungsrechten junger Menschen zu gewähren. Die Herstellung der Öffentlichkeit für Partizipation schloss sich an. Das Jugendministerium unterstützte die öffentliche Debatte über Partizipation, unter anderem mit dem Kongress „Auf Augenhöhe – du bestimmst mit!” im April 2012 (Knauer et al., 2012, S. 15).
Der letzte Schritt war die Verbindung der partizipationsaffinen Beteiligten (Knauer et al., 2012, S. 15). Um Partizipation als einen integralen Bestandteil der Heimerziehung etablieren und fördern zu können, ist unter den Institutionen eine Förderung der Vernetzung aller beteiligten Handlungsfelder und die Schaffung der Möglichkeit zur Bearbeitung der spezifischen Fragestelllungen der Beteiligten als hilfreich anzusehen. Die „Demokratiekampagne“ in Schleswig-Holstein hat nachhaltige Wirkungen erzielt. Partizipation wurde zunächst in der Kommunalpolitik, danach auch in Kindertagesstätten und in der Heimerziehung, zu einem zentralen Prinzip. Dadurch hat sich das Land eine große Expertise im Bereich Partizipation erworben, die es auch in Zukunft zu erhalten gilt. Um die Wirkungen des Projektes zu verdeutlichen, werden die Ergebnisse der beiden Einrichtungen „NGD-Wohngruppe Callisenstraße“ in Schleswig-Holstein und des „Kinder- und Jugendhilfe- Verbundes“ (KJHV) ausführlich dargestellt (Knauer et al., 2012, S. 15 – 45).
3.3 Ergebnisse der „Wohngruppe Callisenstraße“
Die „Wohngruppe Callisenstraße“ der Norddeutschen Gesellschaft für Diakonie (NGD) hat einProjekt zur Verbesserung der internen Hilfeplanung und eines Mentorenprogramms für 12 seelisch behinderte junge Erwachsene nach § 35a SGB VIII mit „psychischen Beeinträchtigungen (insbesondere Psychoseerkrankungen, depressiven Erkrankungen, sozialen Phobien, Zwangserkrankungen sowie im Einzelfall auch Hochbegabungen, die zu psychischen Folgeproblemen geführt haben)“ (Knauer et al., 2012, S. 33) durchgeführt. Die Einrichtung arbeitet eng mit der „Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie“ in Schleswig-Holstein sowie mit niedergelassenen Ärzten und Therapeuten zusammen. Das Konzept dieser Wohngruppe ist auf kleine Wohngemeinschaften mit gemeinsamer Betreuung und Versorgung ausgerichtet. Ziel der Wohngruppe ist neben der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen / jungen Erwachsenen die Förderung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, mit dem Umgang der Gefühle und mit psychischen Erkrankungen, die Entwicklung eigener Ziele und Perspektiven, die Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben, die Überwindung problematischen Sozialverhaltens und die Entwicklung individueller beruflicher Perspektiven (Knauer et al., 2012, S. 33 – 39). Das Projekt konzentrierte sich auf die Verbesserung und Weiterentwicklung von vorhandener interner Hilfeplanung in der therapeutischen „Wohngruppe Callisenstraße“. Die Mitarbeitenden dieser Gruppe hatten bereits Erfahrungen auf dem Gebiet der Eignung der Hilfeplanung und auf anderen Elementen der Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie entwickelten einen Handlungsleitfaden zur Partizipation, der den betreuten Kindern und Jugendlichen eine definierte, gruppenbezogene Beteiligung garantiert. Die Projektziele wurden zusammen mit den Mitarbeitenden der Wohngruppe in einem ersten Workshop konkretisiert. Dabei standen die nachfolgend genannten unterschiedlichen Aspekte im Vordergrund (Knauer et al., 2012, S. 33 – 39).
Die Jugendlichen bewerteten die bisherige interne Hilfeplanung und machten entsprechende Verbesserungsvorschläge (Knauer et al., 2012, S. 33 – 39). Sie äußerten ihre Meinung zur Einführung eines Mentorenprogramms (um neuen Bewohnenden das ‚Ankommen‘ in den Alltag der Wohngruppe zu erleichtern) und dessen Ausgestaltung zur Verbesserung der Partizipation im Alltag. Es wurden Überlegungen angestellt, wie bestehende oder noch zu entwickelnde Partizipationsideen stärker ‚verrechtlicht‘ werden könnten, um die Verbindlichkeit bestehender Elemente zu erhöhen. Weiterhin wurde diskutiert, wie Partizipation für Betroffene auch ‚in Krisenzeiten‘ (z. B. bei bevorstehenden Psychiatrieaufenthalten) erreicht bzw. gestärkt werden kann. Es wurden Überlegungen angestellt, wie die erforderliche Schnittstelle für die Hilfeplanung zwischen interner Einrichtung und Kooperation mit dem Jugendamt adäquat gestaltet werden kann. Es wurden hilfreiche Methoden der Hilfeplanung diskutiert, insbesondere bei der Erreichung psychisch belasteter junger Erwachsener. Schließlich wurde überlegt, ob die interne Hilfeplanung neu benannt werden sollte, um sich deutlich vom offiziellen Hilfeplan des Jugendamtes abzugrenzen. Die genannten Ziele reflektierten die Herausforderungen und Chancen, die sich bei der partizipativen Arbeit mit jungen Menschen mit psychischen Vorerkrankungen oder Störungen ergaben. Das Projekt begann mit einer Befragung der jungen Menschen zu verschiedenen Themen zur bisherigen Vorgehensweise bez. der internen Hilfeplanung. So wurde z. B. über ihre Erfahrungen mit dem letzten internen Hilfeplangespräch, über Themen, die ihnen leicht oder schwer fallen, über ihre Gefühle beim Sprechen über ihre psychische Erkrankung, über die Bedeutung von Vertraulichkeit und ihre Meinung zur Einführung eines Mentorenprogramms gesprochen. Die Gespräche wurden aufgezeichnet, transkribiert und ausgewertet. Dieser Prozess wertete das interne Hilfeplanverfahren aus und verdeutlichte den Jugendlichen, wie wichtig ihre Meinungen, Wünsche und Perspektiven für die Einrichtung sind (Knauer et al., 2012, S. 33 – 39).
Obwohl die Jugendlichen nur wenige konkrete Vorschläge zu einer möglichen Änderung der Hilfeplanung machen konnten, gaben die Ergebnisse der Befragung den Mitarbeitenden genügend Anstöße, ihre bisherige Vorgehensweise zu überdenken und die vorhandenen Elemente der internen Hilfeplanung zu erweitern (Knauer et al., 2012, S. 35 – 39). Zwei Ideen befanden sich dabei im Mittelpunkt, die später eingeführt wurden, obwohl sie ursprünglich nicht im Projektplan vorgesehen waren: zum einen die Einführung eines eigenen Berichts der jungen Menschen zur Vorbereitung auf sowohl interne als auch externe Hilfeplangespräche und zum anderen die Einführung eines Mentorenprogramms, besonders während der Phase der Aufnahmen in die Wohngruppe. Das Projekt hat gezeigt, dass es möglich ist, innovative Wege der Partizipation zu beschreiten, wenn Mitarbeitende und Bewohnende einer Wohngruppe zusammenarbeiten. Die neuen Konzeptideen entstanden daher vor allem in der Diskussion mit dem Wohngruppenteam. Eine Herausforderung blieb der Kontaktpunkt zwischen der internen Hilfeplanung und dem Hilfeplanverfahren des Jugendamtes. Es ist noch unklar, inwieweit die Fachkräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes an einer veränderten Arbeitsweise der Hilfeplanung interessiert sind und ob sie in Zukunft die eigenen Berichte der Jugendlichen in das Hilfeplangespräch einbeziehen werden. Es zeigte sich, dass sowohl bei den jungen Menschen als auch bei den pädagogischen Fachkräften ein hoher Zuspruch für beteiligungsorientierte Verfahren in der Hilfeplanung besteht. Zukünftig werden mehr Regeln bez. der bestehenden Verfahren notwendig sein, um sicherzustellen, dass die etablierte Praxis der Hilfeplanung auch bei personellen Veränderungen im Team oder bei Unruhen in der Gruppe beibehalten wird (Knauer et al., 2012, S. 33 – 37).
3.4 Ergebnisse des „Kinder- und Jugendhilfe-Verbundes“
Der „Kinder- und Jugendhilfe-Verbund“ (im Folgenden KJHV bezeichnet) in Schleswig-Holstein hat ein Projekt zur Entwicklung verbindlicher Partizipation in kleinen Einrichtungen und Lebensgemeinschaften durchgeführt (Knauer et al., 2012, S. 39 – 45). Im Rahmen dieses Entwicklungsprojektes wurde ein Curriculum für eine einrichtungsinterne Fortbildung der pädagogischen Fachkräfte im Bereich Partizipation entwickelt. Dies ermöglicht den einzelnen Einrichtungen, individuelle Wege zur Weiterentwicklung von Angeboten zur Partizipation zu gehen. Der Verbund mit ca. 150 genehmigten Plätzen ist über ganz Schleswig-Holstein verteilt und betreut junge Menschen im Alter von null bis 18 Jahren in kleinen Einrichtungen. Ziele des Verbundes
[..] sind dabei neben der Entlastung und Beruhigung bei akuten schwierigen Familiensituationen die Stabilisierung der Kinder und Jugendlichen, die Förderung der sozialen Integration und Selbständigkeit der Betreuten, die Rückführung in die Familie und / oder die Vorbereitung auf Verselbstständigung (Knauer et al., 2012, S. 39).
Für das Modellprojekt wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, die aus zwei pädagogischen Leitungen und mehreren Mitarbeitenden bzw. Hausleitungen bestand (Knauer et al., 2012, S. 39). Der Verbund beschrieb seine demokratischen Strukturen und Partizipationsprozesse als den üblichen familiären Formen ähnlich und betrachtete formale Partizipationsinstrumente als kontraproduktiv und benachteiligend. Bereits vor Projektbeginn wurden trotz der anfänglichen Zweifel gegenüber formalen Partizipationselementen erste Elemente eingeführt, unter anderem ein verbindliches Beschwerdemanagement. In den Diskussionen zeigte sich jedoch, dass die einzelnen Einrichtungen nicht bereit waren, ihre Autonomie und ihre Beteiligungsprofile aufeinander abzustimmen, da sie befürchteten, ihre Identität und ihre bewährte Praxis zu verlieren. Trotz dieser Bedenken war es dem KJHV ein Anliegen, ein verbindliches Beteiligungssystem zu etablieren und abzusichern. Damit verbunden war die Aufforderung an die Einrichtungsleitungen, die informellen Familienstrukturen durch formelle zu ergänzen, um das Zusammenleben mit den jungen Menschen zu demokratisieren. Um eine akzeptable Verbindlichkeit zu schaffen und damit eine quasi-intrinsische Motivation für das Partizipationssystem zu haben, wurde auf eine regionale Zusammensetzung und die freiwillige Teilnahme in der Arbeitsgruppe des Modellprojekts geachtet. Die Projektziele beinhalteten zunächst die Suche nach einer konkreten Form, die ein Partizipationssystem sowohl transportierte als auch umsetzte. Die Arbeitsgruppe stellte die Idee eines Partizipationshandbuchs vor, in dem die Dokumentation der Entwicklung des Partizipationsstandards im KJHV und die Sicherstellung der Umsetzung in den einzelnen Einrichtungen des Verbundes niedergeschrieben wurde. Das Handbuch sollte konkrete Umsetzungsbeispiele, Hintergrundinformationen, mögliche Hindernisse und Unterstützungsmöglichkeiten enthalten. Im Laufe des Projekts wurde die Idee des Handbuchs von den Mitwirkenden der Arbeitsgruppe hinterfragt, da es als zu unflexibel und endgültig angesehen wurde. Stattdessen entstand die Vorstellung, ein Curriculum für die interne Fort- und Weiterbildung zu entwickeln, welches die Möglichkeiten und Hintergründe partizipativer Arbeit mit der Einzigartigkeit der Einrichtungshäuser verband. Dieses Ziel wurde weiter angepasst und führte schließlich zur endgültigen Zielsetzung des Modellprojektes „Demokratie in der Heimerziehung“ (Knauer et al., 2012, S. 26). Das Team des KJHV erarbeitete den Rahmen und die thematische Ausgestaltung einer strukturell verankerten Reflexionsplattform mit den Zielen des Transfers des theoretischen Teils in die Praxis und der Reflexion dieser Praxis. Neben den theoretischen Grundlagen stand der Austausch über die Erfahrungen mit Beteiligung in den jeweiligen Institutionen im Vordergrund. Durch Vorbereitungen auf neue Beteiligungsprozesse konnten diese im Rahmen der Reflexionsplattform begleitet und kollegial bearbeitet werden. Die Umsetzungsmöglichkeit der Prozesse hatte dabei für andere Einrichtungshäuser eine hohe Priorität, denn somit konnten neue Prozesse angestoßen und Erfahrungsräume erweitert werden. Die Umgestaltung und genauere Definition der Zielsetzung zählte bereits zum Teil des Prozesses, woraus das Ergebnis der Bemühungen resultierte, um einerseits den angeschlossenen Einrichtungen eine klare Unterstützung und Anregung zu geben und andererseits den Weg zu einem verbindlichen Beteiligungssystem in der KJHV zu beeinflussen und abzusichern. Dazu zählten verbindliche Treffen und die Leistungsstärke der Gruppe (Knauer et al., 2012, S. 39).
Trotz der variierenden Arbeitsstrukturen der Institutionen und der unterschiedlichen Prioritäten im Alltag wurde beschlossen, dass das Team mit den verfügbaren Mitgliedern arbeiten und sich jeweils als vollständig verstehen sollte (Knauer et al., 2012, S. 40). Die Vielfalt innerhalb des Teams stellte sich als sehr bereichernd für Diskussionen und Debatten heraus. Ein gemeinsames Verständnis wurde durch die Erstellung einer „KJHV-Definition zur Beteiligung“ (Knauer et al., 2012, S. 41) erreicht. Auf dieser Grundlage wurde folgende Definition erstellt: „Partizipation = partnerschaftliche Beteiligungs- und Entscheidungskultur in einer Gemeinschaft. Hierbei geht es um diskursiv geführte Entscheidungsprozesse, in denen alle Informationen, Wahlmöglichkeiten und Machtbefugnisse transparent sind. Ziel ist sowohl das Erleben als auch das Entwickeln von Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit.“ (Knauer et al., 2012, S. 41).
Die in einem offenen Austausch erarbeitete Definition stellte einen wichtigen Meilenstein dar, da sie verdeutlichte, dass die Mitwirkenden und somit das Netzwerk der Einrichtungen und der pädagogischen Leitungen zusammen Entscheidungen trafen konnten (Knauer et al., 2012, S. 41). Dies führte zu einer Diskussionskultur, die durch Kontroversität, Offenheit und Streben nach Kommunikation geprägt war. Es stellte sich heraus, dass die erarbeitete Definition übersetzt werden muss, damit andere Einrichtungsmitarbeitende und -leitungen sie verstehen und in eigene Handlungskonsequenzen umsetzen konnten. Kinder und Jugendliche sollten beteiligt werden und über das Ziel mitbestimmen können und wie dieses erreicht werden könnte. Es geht darum, die Machtverhältnisse transparent zu machen, das Recht auf Information zu gewährleisten und die Machtbefugnisse zu klären. In diesem Zusammenhang umfasste die Partizipation das Erkennen von Beteiligungsmöglichkeiten, das Planen und Abwägen von Maßnahmen, das Erleben von Beteiligung, das Handeln mit anderen und das Weitergeben des Gelernten. Das Ziel war, dass „[…] jede/r nachhaltig erfährt und lernt, dass er / sie ein Recht darauf hat, gehört zu werden, Dinge zu beeinflussen und den eigenen Beitrag zu seinem / ihrem Umfeld zu leisten. […]“ (Knauer et al., 2012, S. 41). Dies geschah auch durch die Übernahme von Verantwortung und die Einordnung der zu Betreuenden in ihrem sozialen Lebensbereich und sicherte zudem das Hauptziel des Betreuungsangebots des KJHV ab. Die Arbeitsgruppe des KJHV musste sich zunächst mit ihrem Auftrag auseinandersetzen und die Verbindlichkeit ihrer Treffen klären. Die Diskussionen in der Gruppe zeigten, dass sowohl durch die Beteiligung der Fachkräfte innerhalb der Organisation als auch durch die Beteiligung der zu Betreuenden noch keine zuverlässige Ordnung vorhanden war. Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde die ursprüngliche Zielsetzung des Projekts, ein Handbuch zu erstellen, geändert. Stattdessen wurde durch Beschluss die Entwicklung eines Curriculums für interne Weiterbildungen ins Auge gefasst. Das Curriculum sollte zwölf wesentliche Bausteine umfassen (Knauer et al., 2012, S. 41).
Die zwölf Bausteine:
Tabelle 1 Curriculum, eigene Darstellung in Anlehnung an „Curriculum“ (Knauer et al., 2012, S. 42)
Die Arbeitsgruppe erkannte die Notwendigkeit konkreter Ansatzpunkte für partizipatives Handeln zur Reflexion und Umsetzung (Knauer et al., 2012, S. 42). Dies führte zur Schaffung eines Praxisreflexionsraums mit einem Wissensteil, also einer strukturell verankerten Reflexionsplattform. Dieser Raum sollte den Transfer von der Theorie in die Praxis vervollständigen und stellte einen wichtigen Schritt zur Verbreitung und Verrechtlichung von Partizipation dar. In diesem Zusammenhang hatte sich die Arbeitsgruppe des KJHVs mit ihrer Funktion bez. Partizipation befasst. Insgesamt wurden ihr zwei Funktionen zugeteilt (Knauer et al., 2012, S. 42).
Die Arbeitsgruppe war zum einen der Kernpunkt und die erste Reflexionsplattform (Knauer et al., 2012, S. 42). Zum anderen war sie eine einladende und sich vervielfältigende Gruppe, die ihre eigene Kontinuität und Erweiterung durch die obligatorische Teilnahme der Kleinstheime sicherstellte, die von der KJHV in lokalen Gruppen organisiert wurden. Mit der Einrichtung dieser strukturell verankerten Reflexionsplattform wurden mehrere Ziele verfolgt. Erstens sollten strukturelle und regelmäßige Treffen der „AG Partizipation“ auf Verbundebene sichergestellt werden. Zweitens wurde die verbindliche Teilnahme der Einrichtungen im KJHV festgelegt. Drittens sollten den Teilnehmenden durch Wissen die Möglichkeit zur Umsetzung der Partizipation in der Heimerziehung gegeben werden. Viertens waren die Ermutigung und Unterstützung der Teilnehmenden durch Kollegen und pädagogische Leitungen wichtig. Fünftens sollte eine regelmäßige Reflexion stattfinden und das Prinzip „Partizipation ist Bestandteil der Arbeit” (Knauer et al., 2012, S. 42) kontinuierlich vorangetrieben werden. Sechstens sollte die Qualität gesichert und die partizipativen Standards innerhalb des KJHV vereinheitlicht werden. Diese Ziele spiegelten das Bemühen wider, Partizipation in der Heimerziehung zu stärken und zu fördern. Konkrete Schritte zur Zielerreichung, wie das Herunterbrechen der „KJHV-Definition“, das Sammeln von Beispielen gelingender Praxis und von eigenen Erkenntnissen durch Partizipation im alltäglichen Leben von Kleinstheimen sowie die Ausarbeitung eines genau definierten Leitfadens, waren notwendig. Die Arbeitsgruppe führte auch ein Rollenspiel durch, um konkrete Handlungsanleitungen zu erarbeiten. Dies diente der Nachhaltigkeit der gemeinsamen Arbeit als Reflexionsplattform. Bis zum Abschluss des Modellprojektes erfolgten in dieser Wohngruppe zwei Treffen, mit dem Ziel der Diskussion über die Partizipation als organisationsveränderndes Thema und des Erreichens des konkreten Projektziels. Der KJHV hat gezeigt, dass das Einbeziehen der Betreuten als feste Arbeitsmethode die Qualität der Arbeit verbessern konnte. Der KJHV bewegte sich in einem Spannungsfeld verschiedener Interessengruppen und kleiner Heimeinrichtungen (Knauer et al., 2012, S. 42).
Es wurde ein System entwickelt, das sowohl die Einzigartigkeit der Einrichtungen berücksichtigt als auch eine verbindliche und standardisierte Umsetzung von Beteiligungsformen ermöglicht (Knauer et al., 2012, S. 42 – 44). Um zu einem verbindlichen Austausch zu kommen, verfolgte die Projektgruppe zuerst die Idee des Leitfadens mit Hilfe eines Handbuches und danach die Idee der Vermittlung durch Fortbildung. Dies hatte zu einem Ort des verbindlichen Austausches geführt, der dezentral, integrativ und qualitätsorientiert arbeitete. Erst nach Abschluss des Modellprojektes konnte die Plattform festgeschrieben werden. Eine feste Struktur war wichtig, um Beliebigkeit zu vermeiden. Es bestand Klärungsbedarf, ob die Funktion der pädagogischen Leitung als impulsgebende und rahmensetzende Instanz ausreichend war. Es bedurfte einer klaren Vorgabe durch den KJHV, verbunden mit der Aufforderung, die jeweiligen Prozesse in den Einrichtungen zu unterstützen. Die Aufgabe der Geschäftsstelle war die Vorabinformation aller Gruppen, um die ersten Kontakte zu erleichtern (Knauer et al., 2012, S. 42 – 44).
Insgesamt hat das Projekt gezeigt, dass es möglich ist, Partizipation in der Arbeit mit Betreuten zu implementieren und gleichzeitig die Autonomie der angeschlossenen Häuser zu respektieren (Knauer et al., 2012, S. 42 – 44). Außerdem wurde deutlich, dass Erfahrungen bzw. durchgeführte Prozesse zur Partizipation durch die Unterschiede der Häuser sehr vielfältig sind und dadurch einen Gewinn für den Verbund darstellt. Sie haben eine Signalwirkung für andere familienorientierte Kleinsteinrichtungen, auch über die Grenzen Schleswig-Holsteins hinaus. Die Arbeit des KJHV hat gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit Partizipation im Alltag zu einer erweiterten Sichtweise und Handlungsfähigkeit in Partizipationsprojekten führte. Die positiven Erfahrungen – auch mit dem Führen von schwierigen Diskussionen – wurden gesammelt und als Beispiele guter Praxis für andere Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Dies förderte einen Austausch auf Augenhöhe und bot wertvolle Unterstützungsmöglichkeiten. Die Einrichtungen konnten sich Ziele setzen und sahen das Erreichen von Teilzielen sowie weitere Motivation als Erfolg. Auch das Fortfahren der Arbeit an den (Beteiligungs-) Rechten von jungen Menschen sollte berücksichtigt werden. Die Idee eines „Beteiligungskoffers“ für die Betreuten könnte weiterentwickelt werden. Dafür existiert ein „Erstkontaktkoffer“ mit dem Inhalt eines Beispiels aus der Praxis, einer Partizipationsdefinition, Kärtchen, Stifte, einem Partizipationsleiter (7 Formen), einem Ablaufplan und Süßigkeiten. Ebenfalls denkbar ist in diesem System eine Reflexion zusammen mit den jungen Menschen. Wenn die Plattformarbeit in den verschiedenen Regionen weitergeführt, ihre Arbeit authentifiziert und Dritten der Zugriff ermöglicht wird, ist die Vereinbarkeit von Partizipationsarbeit und struktureller, organisationsorientierter Arbeit erfolgreich verlaufen. Dadurch scheint es für die organisatorische Struktur des KJHVs eine tragfähige bzw. chancenreiche Grundorientierung für die weitere Arbeit mit dem Thema „Demokratie in der Heimerziehung“ zu sein (Knauer et al., 2012, S. 39 – 44).
4. Einführung in die familienanalogen Erziehungshilfen
Historisch betrachtet sind Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827) und Johann Hinrich Wichern (1808 – 1888) die ersten Ideengeber für die familienorientierte Fremdunterbringung (Schäfer (b), 2021, S. 9 – 17). Pestalozzi argumentierte in seinem Stanser Brief Anfang des 18. Jahrhunderts aufgrund seiner eigenen kurzen Erfahrung des Zusammenlebens mit bis zu 70 jungen Menschen und einer Haushälterin in einer vorübergehenden Einrichtung, dass die öffentliche Bildung der häuslichen Bildung nachempfunden werden sollte. Er prägte dafür den Ausdruck Wohnstube. Die von ihm beschriebene Erziehung in der Wohnstube kann in ihrem Bedeutungsinhalt als familiäre Erziehung verstanden werden. Wichern hingegen, der einige Jahre nach Pestalozzi als einflussreicher Vertreter der evangelischen Rettungshausbewegung und Gründer des „Rauhen Hauses“ in Hamburg auftrat, formulierte den Begriff des sogenannten Familienprinzips im Zusammenhang mit der Fremdunterbringung. Dieses Prinzip beinhaltete insbesondere eine freiwillige, geschlechtergetrennte Unterbringung in kleineren Häusern auf einem Anstaltsgelände von jeweils bis zu zwölf als verwahrlost angesehenen jungen Menschen, die mit jeweils einer angestellten erwachsenen Person zusammenlebten. Wichern bezeichnete jede dieser personell überschaubaren Wohneinheiten als Familie. Die Personen, die mit den jungen Menschen zusammenlebten, wurden als Familienvorsteher betrachtet. Die Umsetzung des Familienprinzips durch Wichern führte somit insbesondere zur Schaffung einer sprachlich familiarisierten Anstalt mit religiöser Ausrichtung und mehreren geschlechterhomogenen Wohngruppen, in denen Betreuungspersonen lebten. Diese Form der Erziehungshilfe war ab dem 19. Jahrhundert bis zur Nachkriegszeit nicht mehr vorhanden, denn hier wurden eher die im Kapitel 2 erläuterte Form bevorzugt. In der Nachkriegszeit wurde Kritik an diesen Großgruppen geäußert und eine familienorientierte Heimerziehung gefordert. Bedeutende Befürworter für die familienorientierte Heimerziehung in dieser Zeit waren Andreas Mehringer (1911 – 2004) und Hermann Gmeiner (1919 – 1986). Mehringer sprach sich bereits wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, ähnlich Pestalozzis Ansichten, gegen die Anstalten mit Großgruppen und für den Aufbau personell überschaubarer Heimgruppen aus. Er setzte als Leiter des im Krieg zerstörten Waisenhauses in München eine solche Idee in die Tat um. Unter seiner Führung wurde 1951 ein Waisenhaus eröffnet, in dem mehrere Familiengruppen eingerichtet wurden. Dies bedeutete, dass innerhalb eines Gebäudes mit Wirtschafts- und Werkräumen sowie einem Gemeinschaftsraum für die Erziehenden auch zwölf separate Wohnungen eingerichtet wurden. In diesen Wohnungen lebten bis zu 15 junge Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters mit einer Gruppenmutter. Gmeiner war der Gründer des „SOS-Kinderdorfvereins“ im Jahr 1949 und verantwortete in den folgenden Jahren den Aufbau vieler Kinderdörfer in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, die sich als familiäre Hausgemeinschaften betrachteten. Dies implizierte das Zusammenleben mehrerer junger Menschen unterschiedlichen Geschlechts mit einer unverheirateten weiblichen Bezugsperson, die als sogenannte Kinderdorfmutter bekannt war, in einem Wohnhaus auf einem Dorfgelände. Ein Kinderdorf war eine Ansammlung von separaten Häusern, in denen bis zu neun Kinder zusammen mit einer Betreuerin in einer haushaltsähnlichen Umgebung lebten. In dieser Konstellation übernahm die Betreuerin die Rolle einer Ersatzmutter. Die männliche Rolle wurde vom Dorfvater übernommen. Obwohl diese expliziten Familienorientierungen offensichtlich gut zum Wertekonsens der Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland passten, blieben solche Arrangements bis in die 1970er Jahre weitgehend Ausnahmen und die Idee einer familienorientierten Heimerziehung konnte keineswegs die Dominanz der vorherrschenden, institutionell strukturierten klassischen Heimerziehung brechen (Schäfer (b), 2021, S. 12 – 13). In den 1970er Jahren wurden neben den Versuchen des Aufbaus von Jugendwohngemeinschaften und ambulanten Erziehungshilfen auch verschiedene Fremdunterbringungsformen mit wesentlichen Merkmalen der heutigen Form der familienanlogen Erziehungshilfen erprobt. Im Laufe dieses Jahrzehntes wurden unterschiedliche Unterbringungsformen wie z. B. Außenwohngruppen, Kleinsteinrichtungen oder sozialpädagogisch qualifizierte Pflegefamilien geschaffen, die unter die Bezeichnung Erziehungsfamilien, Erziehungsstellen, heilpädagogische Pflegestellen oder Heimaußenstellen fielen und durch die Mannigfaltigkeit ihrer Organisationsformen und Finanzierungsweisen auffielen. Die Träger wurden in den 1980er Jahren durch die Entwicklung in den 1970er Jahren dazu angeregt, Wohn- und Lebensgemeinschaften in Form von Organisation und Finanzierung anzubieten. Mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990 / 1991 kam es zu einem weiteren Wandel, da nun die Vollzeitpflege und Heimerziehung mit der stationären Erziehungshilfe gleichgestellt wurde (Schäfer (b), 2021, S. 16 – 17).
Erziehungsstellen sind ein spezielles Angebot der Kinder- und Jugendhilfe innerhalb der Sozialen Arbeit (Schäfer, Maximilian & Thole, Werner, 2018, S. 233). Dabei werden Kinder und Jugendliche von ihrer Herkunftsfamilie getrennt und von pädagogisch geschulten Fachkräften und häufig unter Einbeziehung weiterer Familienmitglieder betreut. Das sozialpädagogische Hilfsangebot verbindet Teile des Pflegekindwesens und der Heimerziehung. 1972 wurde durch den Landeswohlfahrtsverband und der Heimkampagne die Entwicklung dieser Stellen für stationäre Fremdunterbringung forciert. Diese Art der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen ist laut Schäfer, Maximilian & Thole und Werner (2018, S. 233) eine bundesweit etablierte Form der familienanalogen stationären Erziehungshilfe. Die Studien zu familienanalogen Erziehungshilfen sind im Vergleich zu denen der stationären Unterbringung meist älter oder weniger umfangreich (Schäfer, Maximilian & Thole, Werner, 2018, S. 233). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass durch die längerfristige Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsstellen eine familienähnliche Betreuungsstruktur geschaffen wird. Diese Struktur fördert eine intensive Bindungsbeziehung zwischen Betreuten und Betreuern. Es entsteht eine besondere Nähe zwischen beiden Parteien. Eine ausgewogene Nähe und Distanz zu finden, gestaltet sich jedoch schwierig (Schäfer, Maximilian & Thole, Werner, 2018, S. 233).
Nach Schäfer ((b), 2021, S. 17 – 18) gibt es für die familienanaloge Erziehung auch heute noch verschiedene Bezeichnungen, Konzepte, formalrechtliche Einordnungskriterien und Finanzierungsund Honorierungsansätze. Trotz dieser Unterschiede kann die familienanaloge Heimerziehung als Zusammenleben junger Menschen mit qualifiziertem Fachpersonal innerhalb eines Haushalts ohne Schichtdienst betrachtet werden. Aus rechtlicher Perspektive gibt es Regelungen, die zu beachten sind. Dies näher zu erläutern, würde den Rahmen der Bachelorarbeit sprengen. Mit Hilfe der Ausführungen von Schäfer ((b), 2021, S. 19 -20) wird im Folgenden eine kompakte Übersicht geschaffen.
Die Regelungen nach SGB VIII
Seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes bilden entweder § 33 Satz 2 SGB VIII oder § 34 SGB VIII die gesetzliche Grundlage für das Zusammenleben in der familienanalogen Erziehungshilfe (Schäfer (b), 2021, S. 19 – 20). Bei Volljährigkeit kann dies jeweils in eine Hilfe nach § 41 SGB VIII „Hilfe für junge Volljährige“ umgewandelt werden. Obwohl familienähnliche Formen der Erziehungshilfen konzeptionelle Hybride darstellen, indem sie Elemente der Vollzeitpflege und der Heimerziehung kombinieren, sind sie keine rechtlichen Hybride. Ein einzelnes Setting⁷; kann entweder Hilfen nach § 33 Satz 2 SGB VIII oder Hilfen nach § 34 SGB VIII leisten. Es ist rechtlich nicht zulässig, dass ein junger Mensch in derselben Wohn- und Lebensgemeinschaft nach § 33 Satz 2 SGB VIII und ein anderer junger Mensch nach § 34 SGB VIII unterstützt wird. Aufgrund der rechtlichen Grundlage der erbrachten stationären Erziehungshilfen lassen sich strukturell zwei verschiedene Varianten von familienähnlichen Erziehungshilfen unterscheiden, obwohl es sich um eine konzeptionelle Mischform handelt. Wenn eine Erziehungshilfe nach § 33 Satz 2 SGB VIII erfolgt, handelt es sich um eine Form der Vollzeitpflege für junge Menschen, die als besonders entwicklungsbeeinträchtigt angesehen wird. Wenn eine Erziehungshilfe jedoch auf § 34 SGB VIII basiert, handelt es sich um eine Form der Heimerziehung, die in einer Heimeinrichtung durchgeführt wird. Obwohl es sich in beiden Fällen um öffentlich beauftragte und vertragsbasierte Formen eines sogenannten familienähnlichen Wohnens in sozialpädagogisch qualifizierten Lebensgemeinschaften handelt, gibt es neben konzeptionellen Gemeinsamkeiten auch einige Unterschiede. Wenn eine Unterbringung nach § 34 SGB VIII erfolgt, handelt es sich um eine Unterbringung in einer Einrichtung. Hier werden junge Menschen in den Familien von Fachkräften mit sozialpädagogischer Ausbildung untergebracht. Die Betreuungspersonen sind in der Regel auch dazu verpflichtet, sich regelmäßig von Fachberatungsdiensten eines Trägers der Kinder- und Jugendhilfe beraten und begleiten zu lassen⁸. Erfolgt eine Unterbringung nach § 33 Satz 2 SGB VIII, gilt diese Hilfe rechtlich als Unterbringung in einer Pflegefamilie und nicht als Unterbringung in einer Einrichtung. Trotz der engen Zusammenarbeit zwischen den Betreuungspersonen und den Fachberatungsdiensten in familienähnlichen Hilfen sind die jungen Menschen vertraglich nicht an die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfeträger gebunden. Stattdessen werden sie an die Betreuungs- oder Pflegepersonen in den Erziehungsstellen vermittelt. Die Pflegepersonen, die für die Betreuung zuständig sind, befinden sich in dieser Konstellation nicht in Arbeitsverhältnissen mit öffentlichen oder freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe. Diese erzieherischen Sorgearbeiten werden durch Pflegegelder vergütet. Die Pflegegelder bestehen im Wesentlichen aus pauschalen Erziehungsbeiträgen und altersgestaffelten Grundpflegegeldern, um die Lebenshaltungskosten der jungen Menschen sicherzustellen. Die Höhe der Pflegegelder wird durch die jeweils zuständigen Landesbehörden festgesetzt. Zusätzlich erhalten Betreuungspersonen in der Regel pädagogische Aufwandsentschädigungen. Die Höhe wird meist zwischen den Fachberatungsdiensten und den zuständigen Behörden ausgehandelt. Diese Entschädigungen gelten für die Betreuungspersonen im steuerrechtlichen Sinne jedoch nicht als beruflich erzieltes Einkommen (Schäfer (b), 2021, S. 19 – 20).
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⁷ Bedeutung „Setting“ nach Duden online: „Gesamtheit von Merkmalen der Umgebung, in deren Rahmen etwas stattfindet, erlebt wird“ (Dudenredaktion, „Setting“ Duden online, n.d.)
⁸ Die Kinder und Jugendlichen sind in der familienorientierten Heimerziehung untergebracht, lediglich die Einordnung ihres Bedarfs entweder nach § 33 SGB VIII oder nach § 34 SGB VIII unterscheidet die gesetzlichen Vorschriften / Voraussetzungen der Unterbringung in der familienorientierten Heimerziehung.
5. Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte in den stationären Heimerziehungen und familienanalogen Erziehungshilfen
Um tiefer in die Materie der Heimerziehung einzusteigen, werden im folgenden Text die Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte in der stationären Heimerziehung dargestellt. Danach werden die Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte innerhalb der familienanaloge Erziehungshilfen beleuchtet.
5.1 Aufgaben in der stationären Heimerziehung
Behringer (2021, S. 71 – 85) beschreibt, dass die Arbeit in Heimen aufgrund der biografischen Beziehungserfahrungen junger Menschen und den daraus resultierenden Konflikten, insbesondere für Berufseinsteiger, komplex, anspruchsvoll und herausfordernd ist. Aus Sicht der pädagogischen Fachkräfte können Konflikte aufgrund von Kleinigkeiten entstehen. Gemäß Friedrichs und Waluga (2021, S. 8) leben Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung nicht freiwillig. Wie bereits im Kapitel 2 erwähnt, stammen diese Kinder und Jugendlichen aus schwierigen familiären Verhältnissen, in denen sie keine sicheren Bindungsbedingungen hatten. Wenn diese Kinder und Jugendlichen ihren Bedürfnissen nach Nähe gegenüber ihren Bezugspersonen nachgegangen sind, mussten sie in diesen verletzlichen Momenten physische und / oder psychische Qualen erleben. Ein positiver Beziehungsaufbau war somit nicht möglich. Die Kinder und Jugendlichen bringen negative Erfahrungen mit in die stationäre Heimerziehung. Die pädagogischen Fachkräfte haben die Hauptaufgabe, kompensatorische Erziehung, intensive Beziehungsarbeit und Sozialisation innerhalb der Wohngruppe zu leisten. Hierfür ist fundiertes Fachwissen erforderlich. Laut Friedrichs und Waluga (2021, S. 9) sehnen sich Kinder und Jugendliche trotz ihrer negativen Erfahrungen nach Nähe und positiven Beziehungen. Pädagogische Fachkräfte können ihnen dabei helfen, diese in verschiedenen Alltagssituationen zu erfahren, indem sie bspw. Beteiligungsformen und den Umgang mit Distanz und Nähe innerhalb einer Beziehung vermitteln (Friedrichs & Waluga , 2021, S. 8 – 9). Die Definition von Bindung und Beziehung wird unter Kapitel 6.2 näher erläutert. Es ist jedoch nicht nur wichtig, dass das pädagogische Fachpersonal den Kindern und Jugendlichen hilft, sondern es ist auch eine Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten notwendig. Nach Böllert (2017, S. 222) agiert die Jugendhilfe in Konfliktsituationen unterhalb der Hürde des § 1666 BGB, indem sie Kindern, Jugendlichen und ihren Erziehungsberechtigten Möglichkeiten aufzeigt, Konflikte eigenverantwortlich zu lösen. Insbesondere muss die Jugendhilfe die Erziehungsberechtigten, die den staatlichen Erziehungsauftrag nicht erfüllen wollen oder können, davon überzeugen, dass sie dies tun sollten. Die Jugendhilfe sollte sich entsprechend so verhalten, als ob die Verweigerung der Erziehungsberechtigten, ihre rechtlichen Pflichten gegenüber den Kindern und Jugendlichen zu erfüllen, zunächst keine schwerwiegenden Folgen für sie hätte. Die Jugendhilfe muss den Erziehungsberechtigten Dienstleistungen anbieten, die diese in der Regel als Zeichen ihres offensichtlichen Scheiterns interpretieren (Böllert, 2017, S. 223).
Günder & Nowacki (2020, S. 103 – 106) folgend, besteht heute eine sehr offene und umfassende Erwartungshaltung an die pädagogischen Fachkräfte, die eine förderliche pädagogische Unterstützung einschließt. Die Identifikation im beruflichen Kontext der pädagogischen Fachkräfte (im Folgenden Heimerziehende genannt) wird durch übernommene, erlernte oder selbstständig entwickelte Haltungen bestimmt, die sie erfolgreich im beruflichen Alltag einbringen. Wenn die pädagogischen Haltungen und Wertmaßstäbe bei den Kindern und Jugendlichen keinen Nutzen erzielen, kann dies zu einer Diskrepanz zwischen Haltung und beruflichem Erfolg führen. Um dies zu beheben, ist es notwendig, neue erfolgversprechende pädagogische Haltungen und Vorgehensweisen zu entwickeln und zu verinnerlichen. Die pädagogischen Fachkräfte sollten neben den allgemeinen sozialpädagogischen und heimspezifischen Qualifikationen eine eigene bindungssichere Persönlichkeit und ein Wissen zur Bindungstheorie besitzen. Eine grundlegende Haltung für Heimerziehende ist die Wertschätzung des Kindes durch Achtung und Respekt. Die pädagogischen Fachkräfte müssen empathisch sein, um ein Verständnis für die Gefühle und Gedanken der Kinder und Jugendlichen zu erhalten. Darüber hinaus ist es wichtig, dass das Beziehungsangebot authentisch ist und mit der eigenen Ausdrucksweise übereinstimmt. Eine professionelle Haltung, die die positiven Selbstentwicklungskräfte von Kindern und Jugendlichen betont, ist ebenfalls von Bedeutung. Teamberatung und Supervision können dazu beitragen, das eigene Handeln und die Interaktion zu reflektieren (Günder & Nowacki, 2020, S. 105 – 106).
Durch die individuellen und besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in der Heimerziehung mit stationärem Aufenthalt muss zusätzlich zur allgemeinen Gruppenpädagogik die individuelle Erziehung berücksichtigt werden (Günder & Nowacki, 2020, S. 184 – 185). Diese individuelle Erziehungsmethode beinhaltet ein breites Spektrum an pädagogischen Handlungsmöglichkeiten. Diese reichen von verhältnismäßig einfachen, aber möglicherweise zeitaufwendigen und konsequent zu verfolgenden Erziehungsaufgaben wie bspw. die Unterstützung bei den Hausaufgaben oder die Planung gemeinsamer Aktivitäten bzw. das ‚zur Verfügung stehen‘ als einfühlsame und sensible Bezugsperson (wie bspw. als Ansprechpartner bei Problemen und / oder Konflikten) bis hin zu methodisch fundierten und abgestimmten individuellen Förderungen im pädagogischen Bereich. Die Kinder und Jugendlichen stehen in einer Beziehung, das auf einfühlsames Verstehen und Vertrauen beider Seiten basiert, die durch eine Bezugsperson gewährleistet werden kann. Hier ist die Umsetzung eines Bezugsbetreuungssystems sinnvoll, in dem jedes Individuum ein Teammitglied als spezifische Ansprechperson hat. Wie oben bereits beschrieben, gehören auch die Erziehungsberechtigten zu dem Personenkreis, dem sich die Heimerziehenden widmen. Darunter fällt die gezielte Arbeit mit den Erziehungsberechtigten im Interesse des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen sowie das Näherbringen der echten Gefühle seitens der Erziehungsberechtigten für den eigenen jungen Menschen in Form von gegebener Zeit und deren Probleme. Auch die pädagogische Begleitung bei Therapien fällt darunter.
Aber nicht nur die Zusammenarbeit der pädagogischen Fachkräfte mit Kindern und Jugendlichen, Erziehungsberechtigten oder anderen Heimerziehenden ist Teil des Aufgabengebiets, sondern auch die Teamarbeit innerhalb der stationären Heimerziehung (Günder & Nowacki, 2020, S. 184 – 185). Eine Abstimmung und Einhaltung der allgemeinen sowie individuellen Feinziele im Team ist Voraussetzung. Nach Günder & Nowacki (2020, S. 185) hat sich herausgestellt, dass die Bezugsperson des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen die Hauptverantwortung für die spezifischen Erziehungsaufgaben trägt. Die Hauptbezugsperson führt, wann immer dies zeitlich möglich ist, die Umsetzung der pädagogischen Förderung durch. Sie ist dafür verantwortlich, dass während ihrer Abwesenheit die vereinbarten pädagogischen Maßnahmen von den anderen Teammitgliedern durchgeführt werden. Dies erfordert einen ständigen Informationsaustausch über den Verlauf der pädagogischen Bemühungen sowie über Entwicklungsfortschritte und -rückschritte. Die Bezugsperson koordiniert die Arbeit der Teammitglieder mit dem Kind oder Jugendlichen und stellt sicher, dass die vereinbarten Zeiten und Inhalte der individuellen pädagogischen Methoden eingehalten werden. In regelmäßigen Teambesprechungen erhält die Bezugsperson Berichte der anderen Teammitglieder über die Durchführung der pädagogischen Arbeit und gibt eigene Informationen über die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen weiter. Bei Nichteinhaltung der vereinbarten Zeiten und Inhalte können Erklärungen von den Teammitgliedern eingefordert werden. Die persönliche Hauptverantwortung für ein bestimmtes Kind kann eine relative Sicherheit bieten, dass die Verfolgung der individuellen Erziehungsziele planmäßig und konsequent erfolgt (Günder & Nowacki, 2020, S. 186).
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Heimerziehenden durch die individuelle Entwicklungsförderung der Kinder und Jugendlichen den inneren Halt durch den Ausbau des äußeren Halts unterstützen, der nicht ausschließlich die Gruppenstruktur und festgelegte Regeln umfasst (Günder & Nowacki, 2020, S. 184 – 185). Aber auch die Teamarbeit innerhalb des Teams der pädagogischen Fachkräfte und die Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten sind für die Entwicklung der jungen Menschen wichtig.
5.2 Aufgaben in der familienanalogen Erziehungshilfe
Nach Schäfer (2021(b), S. 445 – 454) wird in der familienanalogen Erziehungshilfe weder von den offiziell zuständigen Betreuungspersonen / Heimerziehenden noch von anderen Beteiligten versucht, dem Kind oder Jugendlichen ständig Aspekte des soziokulturellen Wissens zu vermitteln. Obwohl die Kinder und Jugendlichen durch ihre Unterbringung fast immer als ‚zu Erziehende‘ sozial positioniert sind, werden sie im Alltag nicht als solche behandelt. Generell lässt sich daher feststellen, dass im Alltag von Seiten der Betreuungspersonen in diesen Unterbringungseinrichtungen gelegentlich sowie im Rahmen verschiedener Alltagshandlungen unregelmäßig Versuche unternommen werden, den Kindern und Jugendlichen verschiedene Aspekte des soziokulturellen Wissens (z. B.: Rücksichtnahme auf ältere oder schwangere Menschen) zu vermitteln. Es gibt also keine kontinuierlichen Vermittlungsversuche konkreter Inhalte zu Lernzwecken durch die Heimerziehende. Diese Versuche sind also diskontinuierlich und in andere Alltagshandlungen eingebettet. Die Kinder sind in der Lage, in ihrem Alltag im Rahmen einer eigenen Lebensbewältigung Problemlösungsfähigkeiten aufzubauen. So sind die Heimerziehende für die Kinder und Jugendlichen Bezugspersonen, an die sie sich mit Fragen und Hilfestellungen wenden können. Die Heimerziehende übernimmt in dieser Form der Erziehungshilfe die Rolle des Erziehungsberechtigten, wie sie in einer sozial funktionierenden Familie von den Erziehungsberechtigten eingenommen worden wäre. Die Bezugsperson nimmt sich Zeit (abwartendes Zuhören) für den Rat- oder Hilfesuchenden und versucht gemeinsam mit ihm Antworten oder Lösungen zu finden. Dabei gibt sie ihm die Möglichkeit, das Gespräch durch eigene Inhaltsbestimmungen, Schwerpunktsetzungen, Relevanzdefinitionen und die Richtung des gemeinsamen Handelns mitzubestimmen. Die Bezugsperson unterstützt das Kind und den Jugendlichen dabei, den negativen Gefühlszustand zu überwinden. Gelingt es dem Jugendlichen nicht, dies selbstständig zum Ausdruck zu bringen, wird durch pädagogische Bemühungen versucht, Möglichkeiten aufzuzeigen, die dem jungen Menschen helfen, mit seinen eigenen Gefühlen in Bezug auf die frühere Situation umzugehen. Dabei ist die Bezugsperson emotional ausgeglichen und zeigt Interesse, Wertschätzung, Aufmerksamkeit und angemessene körperliche Berührungen. Auch ohne das aktive Zutun des jungen Menschen zeigt die Bezugsperson eigenständige Vermittlungsbemühungen, wie bspw. die Vermittlung von soziokulturellem Wissen. Die Bezugsperson ist in der Position, Entscheidungen für den jungen Menschen zu treffen. Diese müssen akzeptiert werden und bei Nichteinhaltung müssen die Jugendlichen mit angemessenen Konsequenzen rechnen. Es ist wichtig, dass die Bezugsperson dem jungen Menschen die Konsequenzen möglichst im Voraus aufzeigen kann, damit dieser sein Handeln überdenken und für die Zukunft anpassen kann (ein Beispiel: Wenn der junge Mensch für das Ein- und Ausräumen des Geschirrspülers zuständig ist und dies nicht rechtzeitig erledigt, dann fehlen die notwendigen Teller etc. beim Essen und der junge Mensch muss mit der Hand spülen, damit jeder das notwenige Geschirr hat) (Schäfer (b), 2021, S. 445 – 454).
Die Bezugsperson muss in Konfliktsituationen besonders sensibel vorgehen, da die Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer Vorerfahrungen unter Umständen eine andere Interpretation der Konsequenzen haben; so kann es vorkommen, dass der junge Mensch das Gefühl hat, dass sein Verhalten nicht akzeptiert wird (Schäfer (b), 2021, S. 445 – 454). Fremdbetreute junge Menschen können sich in einer untergeordneten und weisungsgebundenen Position gegenüber den Betreuungspersonen sehen. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich dem pädagogischen Willen unterordnen und bereit sind, sich in ihrem Handeln von außen leiten zu lassen. Deshalb ist es wichtig zu sehen, dass es viele soziale und pädagogische Handlungen gibt, die dem jungen Menschen das Recht auf Eigensinn, eigenständiges Handeln und Entscheiden zugestehen. Sie können mitbestimmen, wie das gemeinsame Handeln aussehen soll. Die Betreuungsperson tritt dem Heranwachsenden insgesamt besonders ruhig und gelassen gegenüber, zeigt immer wieder Offenheit und Wohlwollen und drückt durch Fragen und Vorschläge für gemeinsame Handlungsabläufe immer wieder Interesse am Heranwachsenden aus (Schäfer (b), 2021, S. 445 – 454).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in dieser Form der Erziehungsarbeit die Bindung und Beziehung zwischen den Heranwachsenden und den pädagogischen Fachkräften sehr wichtig ist. Diese Themen werden unter Kapitel 6 näher erläutert.
6. Die Bindungstheorie nach Bowlby
Um die genannten Punkte in den Kapiteln 2, 4 und 5 bezüglich der Bindung der jungen Menschen gegenüber den Erwachsenen besser zu verstehen, wird in diesem Kapitel die Bindungstheorie von Bowlby näher erläutert. Beschäftigt man sich näher mit dem Begriff Bindung, werden die Untersuchungen und Ergebnisse durch Bowlby am häufigsten zitiert. Aufgrund dessen beleuchtet die Autorin die Bindungstheorie von Bowlby näher.
6.1 Grundlagen der Bindungstheorie
Untersuchungen an von ihren Eltern getrennten Kindern von Menschen und Affen haben Ergebnisse erbracht, die Psychiater und Psychologen zu einer Revision ihrer Ansichten über die frühe Entwicklung veranlasst haben. (Siegler et al., 2022, S. 450 – 451). John Bowlby und seine Kollegin Mary Ainsworth standen im Vordergrund der Bemühungen zur Entwicklung und Erweiterung der Bindungstheorie, die 1958 von dem britischen Psychoanalytiker John Bowlby entwickelt wurde. Laut dieser Theorie haben Kinder eine biologische Neigung – sie entwickeln eine Bindung zu Pflege- und Bezugspersonen, da die Bindung ihre Chance zum Überleben verbessert. Bowlbys Bindungstheorie stand unter dem Einfluss von Freuds zentralen Lehren, dass die spätere Entwicklung von Säuglingen durch die früheste Beziehung zur Mutter geprägt wird. Die Sichtweise der Psychoanalyse auf das „bedürftige und abhängige Kleinkind“ wurde von Bowlby nicht favorisiert und daher durch das Konzept des „kompetenzmotivierten Kleinkindes“ abgelöst. Das Kleinkind nutzt seine engsten Bezugspersonen als sichere Basis (Siegler et al., 2022, S. 450 – 451).
Der Erwachsene strebt nach erfüllenden und sicherheitsfördernden Beziehungen und erwartet, diese auch zu finden. Diese ähneln den Beziehungen, die sie in ihrer Kindheit mit ihren primären Bezugspersonen hatten (Siegler et al., 2022, S. 450 – 451). Kinder können durch die Abwesenheit oder das Nichtreagieren der Erwachsenen eine negative Vorstellung von Beziehungen und zu sich selbst entwickeln. Wie im vorherigen Absatz beschrieben, wird angenommen, dass das innere Arbeitsmodell der Bindung bei Kindern ihre allgemeine Einstellung, Fremdwahrnehmung, soziales Verhalten, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein beeinflusst (Siegler et al., 2022, S. 450 – 451).
Gemäß Jungmann (2019) basiert die ethologische Bindungstheorie auf der Annahme, dass enge soziale Bindungen zu knüpfen, ein angeborenes Bedürfnis von Menschen ist, das sich im Laufe ihres Lebens verändert. Diese Theorie untersucht die Auswirkungen von Störungen auf die psychische Gesundheit und den Entwicklungsverlauf in engen emotionalen Beziehungen sowie den Einfluss auf die Anpassungsqualität im Laufe des Lebens. Im Gegensatz zu Sigmund Freuds Triebtheorie, die davon ausgeht, dass der Säugling durch orale Befriedigung während des Stillens eine Bindung eingeht, geht Bowlby davon aus, dass Kontakt und Nähe in bindungsrelevanten Situationen durch ein entwicklungsgeschichtlich bedingtes Bindungsverhaltenssystem gewährleistet werden. Bowlby kritisiert traditionelle psychoanalytische Modelle, die sich mit der Fantasie des Kindes befassen und die die Auswirkungen realer Trennungstraumata nicht akzeptieren. Er war auch ein Gegner des Behaviorismus der späten 1920er Jahre, insbesondere der Ansichten von John B. Watson, der vor der Verwöhnung von Kindern durch ihre Mütter und deren übertriebener Besorgnis warnte. Bowlbys eigene klinische Beobachtungen, einer durch Trennungserlebnisse hervorgerufene Gefühlslosigkeit bei jungen Menschen, wurden durch die Forschungen seiner Kollegen Konrad Lorenz (frühe Prägung im Tierreich), Harry Harlow (Untersuchungen an Rhesusaffen) und René Spitz (Deprivationsstudien) bestätigt (Jungmann, 2019).
Bowlby wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beauftragt zu untersuchen, wie die Psyche von Kriegswaisen aussieht und welche Grundbedürfnisse diese haben (Jungmann, 2019). In der Arbeit „Maternal Care and Mental Health“ von Jungmann (Jungmann, 2019 zitiert nach Bowlby, 1951) wurden die Ergebnisse bez. der fehlenden mütterlichen Fürsorge veröffentlicht. Er leistete damit „[…] einen wichtigen Beitrag zur entwicklungsgerechten Betreuung von Kleinkindern in Heimen und Kliniken.“ (Stegmaier, 2008). Im Ursprung wurde die Bindungstheorie als Entwicklungstheorie im klinischen Sinne konzipiert. Sie wird heute aber hauptsächlich in der Entwicklungspsychologie und der Pädagogik als Grundlage verwendet. Der „Fremde-Situation-Test“ (auch bekannt als Strange Situation), entwickelt von der Psychologin Mary Ainsworth (1979), erlangte übergreifende Akzeptanz und Verbreitung. Ainsworth adaptierte dabei die Feldbeobachtungsmethoden von James Robertson, um den Test zu konzeptionieren. Er wurde von ihr von der Verhaltensebene auf das innere Arbeitsmodell von Bindung (Repräsentationsebene) im Rahmen der Bindungsdiagnostik erweitert (Jungmann, 2019 zitiert nach Ainsworth, 1979).
6.2 Bindung und Beziehung im Kontext der kindlichen Entwicklung
In der Entwicklungspsychologie weiß man, so Krenz (2010, S. 16 – 49), dass es bei Kindern in erster Linie um den Aufbau und die Entwicklung der Selbstkompetenz geht, also um das Verständnis des Kindes von sich selbst und seinen Fähigkeiten, sich mit sich und seinem unmittelbaren Umfeld auseinanderzusetzen, insbesondere unter Berücksichtigung der eigenen Interessen und Möglichkeiten. Dabei geht es um das Entdecken, Erforschen und Sammeln von wichtigen Erfahrungen. Für die Entwicklung von Selbstvertrauen und Handlungsautonomie ist diese Kompetenz von grundlegender Bedeutung. Forschungen zeigen jedoch, dass vielen Kindern diese basale Entwicklung schwerfällt oder durch äußere Einflüsse erschwert wird (Krenz, 2010, S. 16 – 49). „Die Frage nach möglichen Hintergründen wird durch vielfach belegte Untersuchungsergebnisse offenbar: Entwicklung geschieht durch positiv erlebte Bindung und Erziehung ist Beziehung. [Hervorhebungen v. Verf.]“ (Krenz, 2010, S. 16). Positive Bindungserfahrungen tragen dazu bei, dass Kinder ihre persönliche Kompetenz aufbauen und ihnen die positiven Bindungserfahrungen helfen, ihre eigene, einzigartige Identität zu formen. Dies entspricht dem vorprogrammierten Entwicklungsprinzip in der menschlichen Entwicklung. Aktuelle Forschungen in der Entwicklungspsychologie zeigen, dass immer mehr Kinder aufgrund von Beziehungsproblemen Entwicklungsstörungen erleiden. Diese Störungen erschweren es den Kindern, grundlegende Fähigkeiten wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Wahrnehmungsunterscheidung und Selbstakzeptanz zu entwickeln. Für den Aufbau von Kompetenzen gibt es keine inneren, automatischen und selbstgesteuerten Entwicklungsprozesse. Die Beobachtungen zeigen aber, dass bestimmte Basiskompetenzen eng mit der Qualität der grundlegenden Bedürfnisbefriedigung durch Bindungserfahrungen verknüpft sind. Gleichzeitig gilt, dass, wenn bestimmte psychische Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, Verhaltensauffälligkeiten entstehen. Um eine nachhaltige Bindung aufzubauen, ist es wichtig, dass die Bezugsperson dem Kind und Jugendlichen gegenüber wertschätzend, respektvoll und achtsam ist. Dadurch kann eine positive Beziehung entstehen (Krenz, 2010, S. 72).
Bedürfnisse nach emotionaler Nähe und Verbundenheit sind nach König (2020, S. 14 – 42) ein menschliches Grundbedürfnis, welches sich in den verschiedensten Formen von sozialer Beziehung äußert. Hier liegt der Ursprung des Bindungsbedürfnisses. Dies gilt insbesondere für Säuglinge und Kleinkinder. Das Bedürfnis, sozial eingebunden zu sein, Liebe und Wärme zu erfahren, ist nicht mit der Bindungstheorie gleichzusetzen und von den Bindungsbeziehungen zu unterscheiden. Die Bindungstheorie wurde bereits in Kapitel 6 näher erläutert. Übersetzt man die Begriffe emotionale Verbundenheit und Bindung ins Englische, wird der Unterschied noch deutlicher. Im Englischen heißt die allgemeine emotionale Verbundenheit „affiliation“⁹; und die Bindung „attachment (to somebody)“¹⁰. Bindungspersonen sind Personen, die das Kind versorgen und bei emotionalen Belastungen zur Seite stehen. Daher baut ein Kind eine Bindungsbeziehung mit einer geringen Anzahl von vertrauten Personen, wie der Mutter und dem Vater, auf. Ein biologisch fundiertes Verhaltenssystem, das durch die Herstellung von Nähe gekennzeichnet ist, liegt dem Bindungsverhalten zugrunde. Die Funktion dieses Bindungsverhaltens ist die Vermittlung bzw. Wiederherstellung von Sicherheit für das Kind. Zur Regulation der eigenen Gefühle und zum Selbstschutz bedient sich das Kind also der Bindungsperson. Eltern sind Bindungspersonen nicht aus Liebe zu ihrem Kind, sondern weil sie sich um die Grundbedürfnisse ihres Kindes kümmern. Die Eltern-Kind-Beziehung ist nicht ausschließlich auf Bindung ausgerichtet, sie variiert vielmehr das Verhalten in der Interaktion je nach Situation (Stress oder Spiel) und Funktion (Emotionsregulation oder Exploration). Dies ist insbesondere für die Beurteilung der Bindungsqualität relevant. Dabei ist zu beachten, dass Bindungsqualität nicht mit Liebe gleichgesetzt werden sollte. Mit Bindungsqualität ist nicht das allgemeine Interaktionsverhalten des Kindes gemeint, sondern das spezifische Bindungsverhalten des Kindes, welches je nach Erfahrungen im Bereich Fürsorge beziehungsweise Qualität und im Bereich Bindung variieren kann. Es ist wichtig, zwischen dem kindlichen Verhalten außerhalb des familiären Kontextes, das für das Kind alltäglich und stressfrei ist, und dem Bindungsverhalten zu unterscheiden, bei dem die Fachkräfte frühkindlicher Bindung die Position der Bindungsperson einnehmen (König, 2020, S. 14 – 15). Die Entwicklung der Bindung nach Bowlby (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 125 – 130 zitiert nach Bowlby J. , 1969 / 1982) verläuft in verschiedenen Phasen, beginnend bei den ersten Bindungen zu verschiedenen Menschen, auch zu Unbekannten. Hervorzuheben ist, dass Bindungsverhalten nicht gleichbedeutend ist mit Bindung an sich, sondern mit der Suche nach Nähe und Fürsorge (siehe Tabelle 2). Als Bindungsverhalten werden Verhaltensweisen bezeichnet, mit denen Nähe und Fürsorge gesucht werden, wohin gegen Bindung die emotionale Beziehung zwischen dem Kind und der Bezugsperson bezeichnet. Das Bindungsverhalten entsteht zeitlich vor der Bindung und ist im Zeitverlauf immer stärker auf bestimmte Personen ausgerichtet, wodurch vertraute Interaktionsmuster und emotionale Beziehungen entstehen. Während der Entwicklung bildet das Kind ein internes Arbeitsmodell der Bindungsbeziehung aus, das seine früheren Bindungserlebnisse bündelt. Dieses Modell ermöglicht dem Kind die Akzeptanz von Trennungen von Bezugspersonen und die Anpassung seiner Bindungsziele auf der Grundlage des Verständnisses, dass Bezugspersonen grundsätzlich verfügbar sind. Diese Erfahrungen prägen auch zukünftige Bindungen, indem sie bestimmte Erwartungshaltungen an soziale Beziehungen prägen. Man geht davon aus, dass sich Bindungsverhalten und Explorationsverhalten ergänzen, wenn ein Kind Bindungsverhalten aufweist. Das Verhalten der Bindung und das Verhalten der Exploration sind einander ausschließend. Da das Kind zwischen vertrauten und fremden Personen differenziert und Sicherheit hauptsächlich im Umgang mit vertrauten Personen empfindet, geht die Bindungsentwicklung häufig mit dem Auftreten des Fremdelns einher. Je unähnlicher und unbekannter die fremde Person ist und je näher sie dem Kind steht, desto ausgeprägter ist das Gefühl des Fremdelns, das im zweiten Lebensjahr seinen Höhepunkt erreicht und danach wieder nachlässt, während zugleich die Bereitschaft des Kindes zunimmt, sich von der Bezugsperson zu lösen und die Umgebung selbständig zu erkunden (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 125 – 130).
Tabelle 2 Phasen der Bindungsentwicklung nach Bowlby, eigene Darstellung in Anlehnung an Tab. 8.1 (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 124)
Zur Beurteilung der Bindungsqualität zwischen Kind und Bezugsperson haben (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 125 – 130 zitiert nach Ainsworth et al., 1978) den „Fremde-Situation-Test“ entwickelt. Der Test wird üblicherweise im Alter von 12 bis 18 Monaten angewendet und besteht aus unterschiedlichen Episoden, in denen beobachtet wird, wie das Kind auf die Trennung und Wiedervereinigung mit der Bezugsperson reagiert und wie das Kind mit einer fremden Person interagiert. Eine Zusammenfassung der einzelnen Testphasen findet sich in Tabelle 3. Besonders relevant sind die Trennungs- und Wiedervereinigungsphasen und die Auseinandersetzung mit der unbekannten Person. Basierend auf den Beobachtungen lassen sich vier typische Bindungsmuster identifizieren. In der sicheren Bindung fungiert die Bezugsperson als sicherer Ausgangspunkt für Explorationen und das Kind kehrt in unsicheren Situationen zu ihr zurück. Es zeigt Weinen bei Trennung, bevorzugt die Bezugsperson gegenüber Fremden und sucht bei der Wiedervereinigung sofort ihre Nähe. Bei unsicher-vermeidender Bindung zeigt das Kind ein gleichgültiges Verhalten gegenüber der Bezugsperson. Es ist äußerlich unbeeindruckt von Trennungen und meidet Nähe beim Wiedersehen. Die unsicher-ambivalente Bindung zeigt sich darin, dass das Kind vor der Trennung Nähe zur Bezugsperson sucht, aber wenig Exploration zeigt. Nach der Trennung kann es wütend oder ärgerlich reagieren, weiter weinen und sich schwer beruhigen. Es reagiert ambivalent auf die Rückkehr der Bezugsperson. Die desorganisiert-desorientierte Bindung zeichnet sich dadurch aus, dass das Kind widersprüchliche Verhaltensmuster zeigt, die mit keinem der anderen Bindungsmuster in Einklang zu bringen sind. Es können ungewöhnliche Verhaltensweisen wie das Erstarren von Bewegungsabläufen, Teilbewegungsmuster oder stereotype Verhaltensmuster auftreten.
Tabelle 3 Ablauf des „Fremde-Situations-Tests“. (Nach Ainsworth et al. 1978), eigene Darstellung in Anlehnung an Tab. 8.2 (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 126)
Die Qualität der Interaktionen mit der Bezugsperson ist verantwortlich für das unterschiedliche Bindungsverhalten von Kindern. Eine sichere Bindung ist das Ergebnis eines feinfühligen Reagierens der Bezugsperson auf die Bedürfnisse und Signale des Kindes. Dadurch entwickelt das Kind ein Gefühl der Zuverlässigkeit und Geborgenheit, so dass es die Bezugsperson als einen sicheren Hafen erlebt, in den es jederzeit zurückkehren kann und seine Bedürfnisse erfüllt bekommt. Im Gegensatz dazu steht die unsicher-vermeidende Bindung, bei der das Kind die Erfahrung macht, dass die Bezugsperson nicht verlässlich und sicher ist und es unter Umständen sogar zurückgewiesen wird. Das Kind zeigt kein Bindungsverhalten aus Angst vor weiterer Zurückweisung. Untersuchungen z. B. von Spangler und Grossmann (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 125 – 130 zitiert nach Spangler & Grossmann, 1993) zeigen, dass solche Kinder dennoch innerlich verunsichert sind und in Extremsituationen die Nähe der Bezugsperson suchen können. Bei einer unsicherambivalenten Bindung ist davon auszugehen, dass das Kind in seiner Beziehung zur Bezugsperson gemischte Erfahrungen gemacht hat. Es gibt Phasen, in denen die Reaktion der Bezugsperson verlässlich ist, es gibt aber auch Phasen, in denen das Kind die Erfahrung macht, dass die Bezugsperson nicht verlässlich ist. Das Kind hat die Tendenz, sich an die Bezugsperson zu binden, um Nähe und Geborgenheit zu erleben, zeigt aber bei Trennung und Wiederbegegnung oft Ärger und Wut, die vermutlich auf Enttäuschungen zurückzuführen sind. Eine desorganisiert-desorientierte Bindung kann auf eine besonders ungünstige Interaktionserfahrung hindeuten. Dazu gehören ein ängstliches oder beängstigendes Verhalten der Bezugsperson oder Missbrauch. Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass es eine individuelle, möglicherweise genetisch bedingte Disposition für die Entwicklung einer desorganisierten und desorientierten Bindung gibt (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 125 – 130 zitiert nach Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2008). Auf die späteren sozialen Entwicklungen von Kindern haben diese frühen Bindungserfahrungen erhebliche Auswirkungen. Sicher gebundene Kinder scheinen beliebter und kontaktfreudiger zu sein und suchen eher soziale Unterstützung (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 125 – 130 zitiert nach Vondra et al., 2001). Eine sichere Bindung kann auch die kognitive Entwicklung fördern, da sicher gebundene Kinder ihre Bezugsperson als sicheren Ausgangspunkt für die Erforschung ihrer Umwelt heranziehen und sich weniger darauf konzentrieren, Bindungsverhalten zu zeigen, um das Fürsorgeverhalten ihrer Bezugsperson zu stimulieren (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 125 – 130 zitiert nach Korntheuer et al., 2007). Wenn sich die Umwelt des Kindes verändert, können sich diese Effekte jedoch verändern.
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⁹ Nach Oxford Leaner’s Dictionaries: „affiliate somebody/something (with/to somebody/something) to link a group, a company, or an organization very closely with another larger one; The hospital is affiliated with the local university“ (Oxford University Press, 2024).
¹⁰ Nach Oxford Leaner’s Dictionaries: „attachment (to somebody) a feeling of love for somebody/something; a child’s strong attachment to its parents“ (Oxford University Press, 2024).
6.3 Bindungssystem und Fürsorgesystem
Wenn Kinder unsicher sind, suchen sie die Nähe ihrer Bezugsperson, um ihre Unsicherheit zu reduzieren (Lengning & Lüpschen, 2012, S. 10 – 39). Das Bindungssystem ist ein Verhaltenssystem, das als Steuerungssystem angesehen werden kann, da es dafür verantwortlich ist, dass die Distanz zwischen Bezugsperson und Kind nicht zu groß wird. Ein komplementäres Verhaltenssystem zur Bindung ist die elterliche Fürsorge, die sich im schutzsuchenden Verhalten des Kindes widerspiegelt. Eltern können die Bedürfnisse des Kindes als Bezugsperson nur erkennen, wenn es seine Gefühle äußert. Die frühkindliche Bindungsentwicklung wird von den elterlichen Reaktionen beeinflusst, die aufgrund der kindlichen Signale entstehen. Wenn sich Eltern feinfühlig (responsiv / sensitiv) verhalten, ermöglichen sie ihrem Kind offene Gefühlsäußerungen. Responsivität beschreibt das Vermögen und die Bereitschaft von Bezugspersonen, die Signale eines Kindes zu erkennen und darauf zu reagieren. Wenn sich Eltern dem Kind gegenüber nicht responsiv verhalten, wird das Kind eher seine Gefühle unterdrücken, was negative Auswirkungen auf die Bewältigung von schwierigen (zwischenmenschlichen) Situationen haben kann (Lengning & Lüpschen, 2012, S. 13). Die Mutter, der in der Psychoanalyse, der Bindungstheorie und vor allem im realen Leben eine Schlüsselrolle zukommt, erfüllt nach Ahnert (2019, S. 28 – 29) die Bindungsbedürfnisse des Kindes. Sie interpretiert empathisch die Ausdrucksweise des Kindes und reagiert angemessen und zeitnah darauf. Das Bindungssystem des Kindes ist ein evolutionäres System, das sich an jede Art von Mutter bindet, auch an eine unzureichend fürsorgliche Mutter. Es ist stabil gegenüber Umweltveränderungen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass sich eine sichere Bindungsqualität entwickelt, wenn das Bindungssystem nicht die genetisch vorgesehene Unterstützung erhält. Daher kann die Bindungsqualität unsicher oder desorganisiert sein (Ahnert, 2019, S. 28 – 29).
Bindungstheorie von John Bowlby betrachtet die bei Säuglingen und deren Bezugspersonen auftretende komplementäre Verhaltenssysteme aus einer evolutionsbiologischen Perspektive (Ahnert, 2019, S. 28 – 29). Es wird zwischen dem Bindungssystem eines Kindes und dem Fürsorgesystem der Bezugspersonen unterschieden. In der psychologischen Forschung haben das Bindungssystem und seine Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung viel Beachtung gefunden. Das Fürsorgesystem wurde jedoch erst in jüngster Zeit stärker in den Fokus genommen. Das System der Bindung eines Säuglings hat das Ziel, durch die Bezugsperson Nähe und Sicherheit zu gewährleisten. Ursprünglich lag der Schwerpunkt der Bindungstheorie auf der Sicherstellung der physischen Nähe zur Bezugsperson. In späteren Formulierungen wurde der Fokus auf die physische und psychische Sicherheit erweitert. Unterschiedliche Verhaltensweisen wie Lächeln, Weinen oder Quengeln werden vom Kind genutzt, damit es die räumliche Nähe zur Bezugsperson und eine emotionale Sicherheit erreichen kann. Das System der Bindung eines Säuglings wird durch das Bedrohen seiner Sicherheitsbedürfnisse aktiviert. Es wird durch einen Zustand von Schutz und Sicherheit deaktiviert. Ein Säugling greift zunehmend auf frühere Bindungserfahrungen zurück, die in einem inneren Arbeitsmodell (Internal Working Model; IWM) gespeichert sind. Dieses Modell beinhaltet auch die Sensitivität der Bezugsperson als entscheidendes Merkmal ihrer Fürsorge. Die Bindungstheorie hat sich lange Zeit auf das Bindungsverhalten des Kindes und die Entstehung seiner emotionalen Bindung zu seinen Bezugspersonen konzentriert. Ziel des Fürsorgesystems ist es, durch entsprechendes Fürsorgeverhalten wie singen, streicheln, wiegen, in den Arm nehmen etc. die Bedürfnisse des Kindes nach Geborgenheit und Nähe zu befriedigen. Im Speicher des inneren Arbeitsmodells können Bezugspersonen auf erlebte Fürsorgeerfahrungen zurückgreifen. In diesem Modell sind Erfahrungen mit erfolgreichen Verhaltensweisen und dem Wissen über die damit erzielte Reaktion des Säuglings gekoppelt, welches sich grundsätzlich durch neue Erfahrungen verändert. Wird das Fürsorgesystem aktiv, greift die Bezugsperson auf ihr inneres Arbeitsmodell zurück, um ein geeignetes Fürsorgeverhalten auszuwählen, damit Sicherheit und Nähe für den Säugling hergestellt und seine Bedürfnisse befriedigt werden können. Konfliktpotenziale können sich ergeben, da verschiedene Soll- und Ist-Zustände in die Bindungs- und Fürsorgesysteme eingreifen. Wenn verschiedene Ziele miteinander konkurrieren, kann es zu Problemen kommen, z. B. Ziele, die sich auf die Bedürfnisbefriedigung des Säuglings beziehen oder die sich aus anderen Lebensbereichen ergeben, wenn das vorhandene Verhaltensrepertoire nicht ausreicht, um den gewünschten Zielzustand beim Säugling zu erreichen. Außerdem können sich die Ziele und Verhaltensrepertoires verschiedener Bezugspersonen voneinander unterscheiden. Die Folgen bestehen darin, dass die Interaktionsqualitäten im Umgang mit dem Säugling unterschiedlich sind und Verhaltensdiskrepanzen zwischen den Bezugspersonen auftreten. Insbesondere Geschlechterunterschiede sind zu erwähnen, die sich unter anderem dadurch ergeben können, dass Mütter anfangs oft mehr Zeit mit ihrem Säugling verbringen als Väter. Die Interaktionssequenzen zwischen Müttern und ihren Kindern sind oft besser aufeinander abgestimmt als zwischen Väter und Kindern. Das Fürsorgesystem von Müttern ist dementsprechend häufig ausgereifter als das von Vätern (Ahnert, 2019, S. 151 – 153).
6.4 Bindungsstörung
In ihrem Buch „Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen“ stellt Ulrike Kipman (2022, S. 133) Bindungsstörungen vor. Bindungsstörungen können für die zukünftige Entwicklung der Kinder verschiedene negative Auswirkungen haben, da sie oft Folgen von Missbrauch, Misshandlung oder Verwahrlosung sind, insbesondere in Form von emotionaler Misshandlung. Wenn eine solche Störung oder ein unsicheres Bindungsmuster, besonders ein unsicher-desorganisiertes Bindungsmuster, vorliegt, besteht Handlungsbedarf. Die Störung beginnt in der frühen Kindheit bzw. Jugend und gehört zu den „Störungen der sozialen Funktionen mit Beginn in der Frühen Kindheit und Jugend“ (Kipman, 2022, S. 133). Dieser beschreibt den selektiven Mutismus. Dies ist eine Störung, die sich durch das Sprechen oder das Nicht-Sprechen des Kindes in bestimmten Situationen darstellt. Ebenfalls sind Diagnosen vorherrschend, die sich auch im ICD 10 als Störungen wiederfinden. Hierzu gehören die „reaktive Bindungsstörung im Kindesalter“ (ICD 10: F94.1) sowie die „Bindungsstörung mit Enthemmung“, oft auch als Hospitalismus bezeichnet (ICD 10: F94.2) (Kipman, 2022, S. 133). Im ICD 11 sind die „Reaktive Bindungsstörung“ unter (ICD 11: 6B44) und „Störung der sozialen Bindung mit enthemmtem Verhalten“ (ICD 11: 6B45) aufgelistet (International Classification of Diseases, 2023, S. 436). Kipman (2022, S. 133) beschreibt, dass eine Bindungsdesorganisation oder noch extremere Bindungsstörungen als hoch unsichere Bindung definiert werden, da eine Bindungsstrategie und ein inneres Modell zur Bindung fehlen. Die betroffenen Kinder erleben die Bindungspersonen als beängstigend, bedrohlich, schwach oder verängstigt, da sie negative (oft auch traumatisierende) Erfahrungen durch diese Bindungspersonen gemacht haben. Zu traumatisierenden Ereignissen wurde bereits in Kapitel 6.1 näher Ausführungen gemacht. Im ICD 10 werden die beiden bereits genannten Formen der Bindungsstörung unterschieden: die „reaktive Bindungsstörung des Kindesalters“ und die „Bindungsstörung mit Enthemmung“ (International Classification of Diseases, 2023, S. 436). Kinder mit reaktiver Bindungsstörung zeigen ein stark inkonsistentes und zwiespältiges Verhalten. Besonders deutlich wird dies, wenn Personen sich von ihnen verabschieden oder sie wiedertreffen. Kinder wenden den Blick ab, wenn sie gehalten werden und nähern sich, wenn sie abgewiesen werden. Es ist oft eine Kombination aus Nähe, Vermeidung und Widerstand zu beobachten. Die Kinder wirken unglücklich, emotional unerreichbar, zurückhaltend und / oder aggressiv. Negative Emotionen beeinträchtigen auch das Spielen mit anderen, da die Kinder im Spiel unsicher und unzugänglich wirken. Die abnormen Reaktionen treten unabhängig von der Bezugsperson oder der Bindungsperson auf. Bei der enthemmten Bindungsstörung ist das Bindungsverhalten der Kinder unspezifisch. Sie zeigen keine selektive Bindung, sind wahllos freundlich und regulieren kaum Interaktionen mit Gleichaltrigen. Dieses Verhalten ist typisch für Heimkinder oder Kinder, deren Bindungsperson emotional nicht verfügbar ist – Bezugspersonen werden oft gewechselt, die Bindungsperson hat keine Zeit für das Kind und / oder das Kind ist oft auf sich selbst angewiesen. Es fehlen situationsbedingte und angemessene soziale Interaktionen. Hierbei werden oft die Störungen Hospitalismus oder Institutionalismus sowie „emotionale Psychopathie“ angeführt, die in diesem Zusammenhang zu erkennen sind.
Die Bindungsstörungen werden in zwei Typen unterteilt. Diese sind die „reaktive Bindungsstörung des Kindesalters“ (F94.1) und die „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung“ (F94.2) (Kipman, 2022, S. 134). Im Kapitel V des ICD 10 werden im Code F94.1 die „reaktive Bindungsstörung des Kindesalters“ wie folgt beschrieben:
Diese tritt in den ersten fünf Lebensjahren auf und ist durch anhaltende Auffälligkeiten im sozialen Beziehungsmuster des Kindes charakterisiert. Diese sind von einer emotionalen Störung begleitet und reagieren auf Wechsel in den Milieuverhältnissen. Die Symptome bestehen aus Furchtsamkeit und Übervorsichtigkeit, eingeschränkten sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen, gegen sich selbst oder andere gerichteten Aggressionen, Unglücklichsein und in einigen Fällen Wachstumsverzögerung. Das Syndrom tritt wahrscheinlich als direkte Folge schwerer elterlicher Vernachlässigung, Missbrauch oder schwerer Misshandlung auf. Soll eine begleitende Gedeih- oder Wachstumsstörung angegeben werden, ist eine zusätzliche Schlüsselnummer zu benutzen. Unter Exklusivum fallen das „Asperger-Syndrom (F84.5)“, die „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2)“ und der „Missbrauch von Personen (T74.-)“, die „Normvariation im Muster der selektiven Bindung“ und „Psychosoziale Probleme infolge von sexueller oder körperlicher Misshandlung im Kindesalter (Z61)“. ((KKG), 2023).
Im Code F94.2 wird weiterführend die „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung“ wie folgt beschrieben:
Ein spezifisches abnormes soziales Funktionsmuster, das während der ersten fünf Lebensjahre auftritt mit einer Tendenz, trotz deutlicher Änderungen in den Milieubedingungen zu persistieren. Dieses kann z. B. in diffusem, nichtselektivem Bindungsverhalten bestehen, in aufmerksamkeitssuchendem und wahllos freundlichem Verhalten und kaum modulierten Interaktionen mit Gleichaltrigen; je nach Umständen kommen auch emotionale und Verhaltensstörungen vor. ((KKG), 2023). Unter Exklusivum fallen „Asperger-Syndrom (F84.5)“, „Hyperkinetische Störungen (F90.-)“, „Institutionalisierung bei Kindern (F43.2)“und „Reaktive Bindungsstörung im Kindesalter (F94.1)“ ((KKG), 2023).
Durch eine emotional konstant verfügbare Bezugsperson, die dem Kind zur Seite steht, wird die wichtigste Intervention erfüllt, so Kipman (2022, S. 144). Das primäre Behandlungsziel sollte die Schaffung eines stabilen, entwicklungsfördernden Umfelds in der Familie, Pflegefamilie oder stationären Jugendhilfe sein. Mit Hilfe einer Inobhutnahme aus einer familiären Situation, die sich nicht ausreichend verbessern lässt (mangelnde Kooperation, anhaltende Misshandlung oder Vernachlässigung), kann ein solches Behandlungsziel erreicht werden. Bei Bindungsproblemen bzw. suboptimalen Bindungsrepräsentationen empfiehlt sich eine Reihe von Interaktionstrainingsmöglichkeiten (Videoanalysen) mit einem Experten sowie eine Beratung der Eltern und / oder der Erziehenden. Es ist wichtig zu beachten, dass die oben genannten Maßnahmen keine empirische Grundlage haben und potenziell gefährlich werden können, wenn eine Bindung durch Zwang, Regression oder Überwältigung hergestellt wird, wie z. B. „umfassendes Halten“, „Wiederanbindung“, „Wiedergeburtstherapie“ (Kipman, 2022, S. 144).
6.5 Beziehungsarbeit im professionellen Kontext der sozialen Arbeit
In der Kinder- und Jugendhilfe wird in der Praxis der Begriff „Beziehung“ (nähere Ausführungen hierzu in Kapitel 6.2) häufig im Rahmen der Beziehungsarbeit verwendet (Böhle et al., 2012, S. 185 – 200). Dabei wird auf den hohen Stellenwert von tragfähigen Beziehungen für die Zusammenarbeit mit den betroffenen Kindern hingewiesen. Arbeitsaufgaben, die stark mit dem Alltag verknüpft sind, können zu einem erhöhten Bedarf an Legitimation führen und Fragen zur Professionalität aufwerfen, besonders in Situationen, die wenig an Technik gebunden sind. In solchen Fällen kann die Betonung der Beziehungsarbeit helfen, alltägliche Aktivitäten als professionelle Aufgaben zu definieren. Auf diese Weise kann an der pädagogischen Beziehungsbasis gearbeitet werden. Stabile und regelmäßige Interaktionsmuster sind das Fundament einer Beziehung. Diese Muster entstehen durch sich wiederholende Interaktionssequenzen, die eine Dauer von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden haben können, und durch die Relation der Häufigkeit charakteristischer Interaktionen. Die Muster werden in der Regel stabil, wenn sich im Zeitablauf ein thematischer Zusammenhang ergibt. Wie durch die vorherigen Kapitel 6. bis 6.4 festzustellen ist, umfassen
Beziehungen nicht allein stabile Interaktionsmuster. Sie manifestieren sich auf kognitiver Ebene der beteiligten Personen im Selbstbild, im Fremdbild der Bezugsperson und in Interaktionsskripten, also den Erwartungen an den Verlauf einer Interaktion in bestimmten Situationen. Letzteres bezieht sich insbesondere auf Normen und Erwartungen hinsichtlich der Art und Weise, wie etwas durchgeführt werden sollte oder auf das Verhalten sowie auf zukünftige Perspektiven. Dies wiederum bedeutet, dass Annahmen über eine gewisse Zeitspanne und Intensität einer Beziehung akzeptiert werden. In Bezug auf wiederkehrende Interaktionsmuster sind Schemata der Beziehung daher subjektiv in der Wahrnehmung der Akteure und dynamisch aufgrund ihrer gegenseitigen Beeinflussung (Böhle et al., 2012, S. 185 – 200).
Schlussfolgernd gibt es zwei Arten von Beziehungen: Rollenbeziehungen und persönliche Beziehungen (Böhle et al., 2012, S. 185 – 200). Rollenbeziehungen definieren sich über den Interaktionspartner als Träger der Rolle. Eine „Rolle“ ist hierbei ein durch die Kultur vorgegebenes Gefüge gegenseitiger Erwartungen im Verhalten der interagierenden Personen. Rollenbeziehungen konstituieren den Alltag, da innerhalb des Alltags die „Rolle“ nur mit größter Mühe aufrechterhalten werden kann. Gegensätzlich dazu beginnt eine persönliche Beziehung dann, wenn die soziale Interaktion nicht mehr durch die Aufrechterhaltung der „Rolle“ bestimmt wird, sondern sich offen gestaltet. Innerhalb von Beziehungssituationen bewegen sich die Personen zwischen den beiden oben genannten Formen der Beziehung. Diese werden dabei durch das persönliche Empfinden, den institutionellen Rahmen und die Erwartungsanforderungen der Gesellschaft beeinflusst. Es ist wichtig, die Perspektive anderer zu berücksichtigen und sich über eine soziale Situation auszutauschen, um gemeinsam einen Sinn zu schaffen. Erst durch das Wahrnehmen und Deuten der involvierten Personen wird der Sinn von sozialen Situationen hergestellt. Folglich bilden soziale Beziehungen die Grundlage des Prozesses der Identitätsbildung. Im Gegenzug dazu ist die Ausbildung einer Identität die grundlegende Voraussetzung, um eine Beziehung aufbauen zu können.
Die Basis der Erziehungspraxis versucht Herr Nohl mithilfe des pädagogischen Bezugs zu definieren: „Die Grundlage für die Erziehung ist also das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Böhle et al., 2012, S. 187 zitiert nach Nohl, 1935). Nohl möchte, dass der werdende Mensch durch den Erziehenden oder durch Helfende Hilfe erlangt, sodass er die Möglichkeit hat, zu einem Individuum zu werden und den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Es ist wichtig, dass der Erziehende oder der Helfende ihm keine bestimmte Form aufzwingt, sondern das Individuum dabei unterstützt, seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln (Böhle et al., 2012, S. 187). Hierbei sind die Zielsetzungen mit den Vorstellungen des Erziehenden oder Helfenden bezüglich der Normen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Konventionen und Werthaltungen verbunden. Infolgedessen ist die anvisierte Form des werdenden Menschen nicht beliebig. Nach Böhle et al. kommt eine angepasste Normalisierung durch dominante Werthaltungen und Normen in der Erziehung bzw. einer Intervention zustande. Die Flexibilität der eigenen Form ist von der Offenheit der jeweiligen Norm und der toleranten Reaktion auf Abweichungen abhängig. Es ist wichtig, professionelle pädagogische Beziehungen von privaten Beziehungen abzugrenzen, auch wenn diese ebenfalls pädagogisch ausgerichtet sein können. Die folgenden Kriterien helfen dabei, einen klaren Unterschied zwischen privaten Beziehungen mit pädagogischen Intentionen und professionellen pädagogischen Beziehungen zu erkennen. In Anlehnung an die Unterscheidung zwischen rollenförmigen und persönlichen Beziehungen liegt der Schwerpunkt der professionellen pädagogischen Beziehung nach Giesecke (Böhle et al., 2012, S. 187 zitiert nach Giesecke, 1997, S. 250 ff.) auf einer stärkeren Ausrichtung nach einer Rollenförmigkeit. Professionelle pädagogische Beziehungen zeichnen sich durch bestimmte Merkmale auf struktureller Ebene aus. Sie basieren auf einer bezahlten Tätigkeit. Pädagogische Beziehungen sind zeitlich begrenzt und erfordern eine gewisse emotionale Distanz, da sie eine theoretisch offene Anzahl von Adressaten umfassen. Zudem zeichnen sie sich durch die Anwendung von Methoden- und Fachkenntnissen aus. Die pädagogischen Beziehungen sind zweckgebunden und auf sukzessive Auflösung ausgerichtet. Daher kommt auch der Unterschied zu persönlichen Beziehungen, da professionelle pädagogische Beziehungen auf Rollenbeziehungen ausgelegt sind. Diese sind zum einen sachlich und zum anderen bleiben sie auch dann bestehen, wenn die Rollenbesetzung durch verschiedene Personen stattfindet. Dennoch wird im Laufe der Zeit das Verhältnis persönlicher und enger. In der Jugendhilfe können Beziehungen sowohl als Rollenbeziehung als auch in Form einer persönlichen Beziehung entstehen und sich dementsprechend überlagern (Böhle et al., 2012, S. 187 – 188).
Im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit gelten für Fachkräfte drei grundlegende Regeln (Müller et al., 2008, S. 39): die erste ist die der Sparsamkeit, die zweite die des Mitmachens und die dritte Regel die der Sichtbarkeit. Die Regel der Sparsamkeit besagt, dass pädagogische Maßnahmen in eine alltagsnahe Kommunikation eingebettet werden sollten. Bildungs- oder sozialpädagogische Eingriffe sollten in diesem Kontext eher verhüllt bleiben. Eine offene Pädagogisierung des Alltags wird vermieden. In der Kinder- und Jugendarbeit ist es wichtig, die eigene pädagogische Rolle anzuerkennen und dabei die eigenen Wertvorstellungen sowie die des Trägers transparent in dem Verhandlungsprozess vorzustellen. Dadurch werden das Zusammenwirken und die Sichtbarkeit erhöht (Sichtbarkeitsregel) und es kann sich an den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Adressaten orientiert werden. Müller et al. (Müller et al., 2008, S. 39) erläutern die Mitmachregel als Teilnahme der Adressaten an Freizeitaktivitäten, um die lebensweltliche Rahmung der pädagogischen Aktivitäten in Alltagssituationen zu verdeutlichen. Pädagogische Absichten können sich im täglichen Umgang miteinander und in konflikthaften Auseinandersetzungen durch gemeinschaftliches Handeln entfalten. Diese Situationen werden vor allem von den Jugendlichen wahrgenommen. Die Fachkräfte haben durch ihre Kontrolle über die Vorhalteleistungen (wie Ausstattung, Räumlichkeiten, Möglichkeiten des Spiels und der Unterhaltung oder themenspezifische Angebote in Bezug auf Gelegenheitsstrukturen) eine Machtposition, um die Handlungsfreiheit der Adressaten einzuschränken (z. B. durch vorübergehende Hausverbote) sowie normative Erwartungen und Regeln durchzusetzen. Wenn solche asymmetrischen Mächte überstrapaziert werden, besteht die Gefahr, dass Fachkräfte die Arbeitsbeziehung indirekt beenden, da die Adressaten das Angebot möglicherweise nicht mehr als attraktiv ansehen und sich für eine alternative Gestaltung ihres Alltags entscheiden könnten (Böhle et al., 2012, S. 191 und Müller et al., 2008, S. 39). Laut Müller et al. (2008, S. 39) ist die dritte Regel paradox. Hier wird deutlich, dass die pädagogischen Fachkräfte in diesem Bereich die Anerkennung, die sie für ihre Arbeit benötigen, nie „qua Rolle“ haben, sondern diese erst persönlich gewinnen müssen. Es gilt die Regel: „Mache dich und deine Einstellungen erkennbar (sichtbar), aber lasse gleichzeitig zu, dass die Jugendlichen ihre Einstellungen (auch die aggressiven, negativen) äußern können, ohne die wechselseitige Anerkennung in Frage zu stellen.“ (Müller et al., 2008, S. 39). Diese grundlegenden Handlungsvoraussetzungen sind ausschlaggebend für die Beziehungsgestaltung der adressierten Person und den Fachkräften in der Kinder- und Jugendarbeit (Böhle et al., 2012, S. 191).
7. Vergleiche zwischen dem Familienleben, dem Leben in einem Heim und der familienanalogen Erziehungshilfe
Nach Wild und Möller (2020, S. 238) und Niklas (2016, S. 1 versteht die Familiensoziologie unter Familie auch heute noch ein Ehepaar, das mit seinen leiblichen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Diese in der Familiensoziologie als „bürgerliche Kernfamilie“ bezeichnete Form ist unabhängig von anderen familialen Lebensformen statistisch die häufigste Familienform. Andere Familienformen gewinnen jedoch zunehmend an Bedeutung. Der Begriff Familie wird in der Öffentlichkeit und in der Familienforschung für die verschiedensten Formen des Aufwachsens von Kindern verwendet. Beispiele für andere Familienformen sind: Pflege- und Adoptivfamilien, Trennungs-, Ein-Elternteil- und Stieffamilien sowie Regenbogenfamilien (gleichgeschlechtliche Partner). Wild und Möller orientieren sich für die Definition Familie an Hofer:
Hofer (2002a, S. 6) definiert Familie als „eine Gruppe von Menschen, die durch nahe und dauerhafte Beziehungen miteinander verbunden sind, die sich auf eine nachfolgende Generation hin orientiert und die einen erzieherischen und sozialisatorischen Kontext für die Entwicklung der Mitglieder bereitstellt“ (Wild & Möller, 2020, S. 238 zitiert nach Hofer, 2002a, S.6).
Die Familie galt lange Zeit als primäre Institution für Sozialisation und Erziehung (Wild & Möller, 2020, S. 238 – 239). In Anbetracht globaler gesellschaftlicher Entwicklungen ist sie jedoch auch neben der Schule eine wichtige und dauerhafte Bildungseinrichtung. Daraus ergeben sich je nach Alter der Kinder unterschiedliche Anforderungen, Erwartungen und Unterstützungsangebote an die Eltern. Das „Konzept der Familienkarriere“ oder des „Familienzyklus“ von Aldous nimmt an, dass der ‚Familienlebenszyklus‘, vergleichbar mit dem eines Individuums, einer charakteristischen Entwicklungsabfolge folgt (Wild & Möller, 2020, S. 238 zitiert nach Aldous, 1977). Der Übergang zwischen den einzelnen Phasen ist geprägt durch den Wandel der Bedürfnisse und die Fähigkeiten des Kindes, das Rollen- und Selbstverständnisses der Erziehungsberechtigten sowie die gegenseitigen Erwartungen. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Familienmitglieder alle Phasen der Familienkarriere in einer geraden Linie durchlaufen. So können Erziehungsberechtigte nach einer Trennung eine neue Beziehung eingehen und in dieser „Fortsetzungsfamilie“ ein gemeinsames Kind bekommen oder Paare nehmen für eine gewisse Zeit ein Pflegekind auf. Die regulative Idee aufeinanderfolgender Phasen im Familienzyklus, in denen jedes Familienmitglied eigene Bedürfnisse hat, ist heuristisch wertvoll. Sie ermöglicht die Beschreibung der vorhersehbaren Wachstumsaufgaben, die die Familienmitglieder in einer jeweiligen Entwicklungsperiode zu bewältigen haben, um ihren biosozialen Bedürfnissen, den Kulturanforderungen und den Werten und Erwartungen ihrer Mitglieder gerecht werden zu können. Dass nicht alle Familien in gleicher Weise in der Lage sind, auf die sich verändernden Bedürfnisse, Fähigkeiten und Erwartungen der Familienmitglieder zu reagieren, muss sich erst noch erweisen. Bei der Bewältigung so genannter kritischer Lebensereignisse, die unerwartet auftreten und größere Anpassungsleistungen erfordern, wird die unterschiedliche Funktionsfähigkeit von Familien besonders deutlich (Wild & Möller, 2020, S. 238 – 239).
Das Leben in stationären Erziehungshilfen gestaltet sich anders als das Leben zu Hause. Wie bereits im Kapitel 2 beschrieben, leben die Kinder in einem Heim zusammen mit pädagogischen Fachkräften. Hier ist schon der erste Unterschied zu erkennen. Die Kinder leben meistens eher unfreiwillig mit den Fachkräften zusammen, welche durch den Dienstplan auch nur zu festgelegten Zeiten für die Kinder erreichbar sind (Siebholz, 2023, S. 9 – 10; Gaßmöller, 2022, S. 101). Stationäre Erziehungseinrichtungen, die eine ausgleichende Erziehung anstreben, benötigen ebenso wie die familiäre Erziehung eine pädagogische Anerkennungsbeziehung. Im Gegensatz zur familiären Erziehung kann dort nicht auf eine biografisch entstandene Beziehung zurückgegriffen werden, vielmehr müssen Beziehungen und pädagogische Autoritätsverhältnisse professionell aufgebaut werden. Die anhaltend negative Bewertung der Leistungsfähigkeit der stationären Erziehungshilfen weist auf systemimmanente strukturelle Mängel hin. Es gibt bedeutende Differenzen zwischen der familiären Erziehung und der öffentlichen Systemerziehung. Ungeachtet der großen Entwicklungen in der Praxis der Heimerziehung hin zu einer familienähnlichen Form der individuellen und professionellen Unterstützung, die als Möglichkeit der Erziehung in der Familie gedacht ist, lassen sich mehrere systemische Grenzen ausmachen, die mit einem institutionalisierten Lebensort und der dort stattfindenden Erziehung verbunden sind. Diese Einschränkungen sind systembedingt und betreffen hauptsächlich die Gestaltung von Beziehungen. Sie können anhand der Widersprüche zwischen der Gestaltung der Beziehung als Erwerbstätigkeit und dem Ausschließen von Förderleistungen als systembedingte Strategie dargestellt werden. In der Bindungs- und Beziehungsforschung wird davon ausgegangen, dass Vertrauen in Beziehungen nur zu Personen aufgebaut werden kann, die eine hohe Exklusivität und Bedeutsamkeit für das eigene Leben und den eigenen Bildungsprozess haben, insbesondere ohne spezifische Rollenfunktionen, und dass diese Bedingungen vor allem in familiären Kontexten erfüllt sind. Die Beziehungen zwischen den jungen Menschen und ihren Bezugspersonen in der stationären Jugendhilfe, die nicht rollenunabhängig und exklusiv ist, werden durch diese Annahme in Frage gestellt. Beziehungen in diesem Kontext sind durch institutionelle Rahmenbedingungen geprägt. Es handelt sich um zeitlich begrenzte Beziehungen, die durch die Betreuungszeit begrenzt sind und meistens durch Personalwechsel vor dem Ende der Unterbringung enden. Diese Begrenzung ergibt sich aus der Struktur stationärer Hilfen und steht oft im Widerspruch zu den Erwartungen der Jugendlichen, die eine dauerhafte Beziehung erwarten. Diese Erwartung zeigt sich auch nach Beendigung der Hilfen, wenn die jungen Menschen versuchen, den Kontakt zu ihren ehemaligen Betreuungspersonen aufrechtzuerhalten. Der Widerspruch ergibt sich aus der Tatsache, dass in stationären Hilfen Lebensort und Arbeitsort gleichzeitig vorhanden sind. Die pädagogischen Fachkräfte üben hier ihre berufliche Tätigkeit aus, in der es auch um die Begrenzung der Arbeitslast geht. Stationäre Maßnahmen sind für die Kinder und Jugendlichen ein Lebensraum. Sie wünschen sich unter anderem verbindliche und zuverlässige erwachsene Bezugspersonen.
Die familienanalogen Erziehungshilfen wurden bereits unter Kapitel 4 näher erläutert. Hier wurde bereits deutlich, dass diese sich gegenüber den stationären Erziehungshilfen deutlich unterscheiden Nach Schäfer, Maximilian & Thole, Werner, (2018, S. 233) schafft die langfristige Unterbringung von jungen Menschen in pädagogischen Haushalten eine familienähnliche Betreuungsstruktur. Im Gegensatz zur stationären Heimerziehung wohnen hier die pädagogischen Fachkräfte mit den jungen Menschen und häufig mit Beteiligung von Familienangehörigen zusammen in einem Haushalt. Laut Schäfer ((b) 2021, S. 17 – 18) wird die familienanaloge Erziehung unterschiedlich bezeichnet. Sie hat unterschiedliche Konzepte und rechtliche Unterschiede, die sich auch durch Finanzierungs- und Honorierungsansätze unterscheiden. Dessen ungeachtet kann die familienanaloge Heimerziehung als ein Zusammenleben junger Menschen mit qualifiziertem Fachpersonal innerhalb eines Haushaltes ohne Schichtdienst gesehen werden. Die oben benannten Unterschiede werden in dem Kapitel 4 näher erläutert. In diesem Kapitel wird die rechtliche Einordnung des Kindes unter § 33 Satz 2 SGB VIII beleuchtet. Hier handelt es sich um eine Form der Vollzeitpflege für junge Menschen, die als besonders entwicklungsbeeinträchtigt eingestuft werden. Wie bereits erwähnt, ist familienanaloge Erziehung ein familienähnliches Konstrukt, bei dem die pädagogischen Fachkräfte mit den betroffenen Jugendlichen und Kindern immer in einem Haushalt zusammenleben, so die Beschreibung von Schäfer. Die Fachkräfte sind für die Kinder und Jugendlichen die Bezugspersonen, die verschiedene Aspekte des soziokulturellen Wissens in den passenden Situationen vermitteln, ihnen Fragen beantworten oder Hilfestellungen bei Problemen geben und somit laut Schäfer die Rolle des Erziehungsberechtigten einnehmen. Genauere Beschreibungen der Rolle bzw. der Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte sind unter dem Kapitel 5 nachzulesen. Dieses Konstrukt ähnelt sehr dem zuerst beschriebenen Familienleben, daher wird diese Erziehung auch familienanaloge Erziehung genannt. In den Beispielen von Schäfer ((b), 2021, S. 125 – 263) werden eine Wohngruppe und eine Projektstelle beschrieben: die „familienanaloge Wohngruppe Heinrich“ und die „Projektstelle Bollert“.
Die „familienanaloge Wohngruppe Heinrich“ besteht während seines Feldaufenthalts seit drei Jahren und setzt sich wie folgt zusammen: aus einem Paar, Frau Heinrich, die die Hauptbetreuung der Kinder und Jugendlichen übernimmt, ihrem Mann, der an einem anderen Ort seinen Beruf ausübt und nicht für die Übernahme von Betreuungsangeboten vorgesehen ist, und sieben jungen Menschen zwischen acht und 17 Jahren (untergebracht nach § 34 SGB) bzw. einem 26-jährigen Mann, der im Rahmen seiner Ausbildung ein Anerkennungsjahr absolviert (Schäfer (b), 2021, S. 125 – 263). Liest man die Beschreibung von Schäfer über diese Wohngruppe, so stellt man fest, dass Frau Heinrich eine Hybridität innehat, denn sie hat zum einen beruflich-organisationalen und zum anderen einen privaten Anteil an der Wohngruppe. Frau Heinrich grenzt in dem Beispiel allerdings privates und berufliches ab, welches eher an eine stationäre Heimerziehung erinnert als an familienanaloge Erziehung (Schäfer (b), 2021, S. 125 – 263).
Die „Projektstelle Bollert“ erinnert an die familienanalogen Erziehungshilfen (Schäfer (b), 2021, S. 125 – 219). Diese Projektstelle besteht seit dem Feldaufenthalt von Schäfer bereits seit über zehn Jahren. Dort leben neben dem Ehepaar Frings drei leibliche Kinder im Alter von 15, 17 und 19 Jahren sowie drei Kinder im Alter von 14, acht und sieben Jahren, die im Rahmen von Hilfen zur Erziehung nach § 34 SGB VIII untergebracht sind. Sowohl die leiblichen Kinder als auch die Pflegekinder leben mit den Erwachsenen zusammen in einem Haushalt, wobei die leiblichen Kinder einen Rückzugsbereich haben, in den die Pflegekinder nur nach Einladung eindringen dürfen, welcher als Schutz der leiblichen Kinder dienen soll. Der Alltag erinnert an ein Familienleben, wie es sich in funktionierenden Familien ohne klare Abgrenzung von Beruf und Privatleben abspielt. Schäfer berichtet, dass es zwar Unterscheidungen zwischen leiblicher Familie und beruflicher Familie gibt, aber dennoch hat es den Anschein, dass es einen fließenden Übergang zwischen beiden Seiten gibt. Frau Frings nennt das Konstrukt selbst eine „Profifamilie“ (Schäfer (b), 2021, S. 137), denn beide Erwachsene, sowohl Frau als auch Herr Frings, haben eine pädagogische Ausbildung. Frau Frings berichtet, dass die Pflegekinder komplett in die Familie eingebunden sind und auch bei Festen von den Schwiegereltern bedacht und aufgenommen werden. Beide Erwachsene werden von den kleineren Pflegekindern Mama und Papa genannt, wobei Frau Frings den Kindern sagt, dass sie ja bereits eine Mama und einen Papa haben, diese ja nicht weg sind, nur weil sie bei ihnen wohnen (Schäfer (b), 2021, S. 142). Die beiden kleineren Kinder nennen ihre leibliche Mutter „richtige Mutter“. Frau Frings äußert sich im Laufe des Gesprächs mit Herrn Schäfer erneut über die Erwartungen der kleineren Kinder an das Paar und der Hybridität der Projektstelle:
C.F.: ‚Für die Kleinen sind wir Familie. Der Mutter sind beide sehr gleichgültig, das merkt man immer wieder (…). Für die Kinder ist aber sehr wichtig, dass sie eine Familie haben. Dass da Mama und Papa ist, eine heile Familie (lacht), funktionierende Eltern und das liefern wir ihnen eigentlich auch. Sie wollen jemand der sie tröstet, wenn sie traurig sind. Sie wollen jemand, der ihnen was vorliest. Sie wollen jemand, der mit ihnen schimpft, wenn sie etwas Falsches gemacht haben. Sie wollen jemand, der sie ins Bett bringt, der ihnen zuhört und der sich für sie interessiert. All das finden sie hier, das liefern wir ihnen. Und zwar für Geld. (…) Irgendwann werden sie das wissen (…). Ich weiß echt nicht, was da in ihrem Kopf los sein wird. Aber das ist halt unser Beruf. Wir bekommen quasi Geld dafür, Mutter und Vater zu sein‘ (Beobachtungsprotokoll Bollert) (Schäfer (b), 2021, S. 143).
Diese Bemerkung sollte nicht außer Acht gelassen werden, denn hingegen der stationären Heimerziehung, in der den Kindern und Jugendlichen bewusst ist, dass sie in einem Heim leben, kann in der familienanalogen Erziehung für die dort lebenden Kinder das Gefühl von „richtiger Familie“ aufkommen (Schäfer (b), 2021, S. 143). Die Aussage von Frau Frings kann man so interpretieren, dass das aufkommende Gefühl der Kinder schwierig mit dem Wissen, dass die Bezugspersonen Gehalt für ihre „Erziehung“ bekommen, zu vereinen ist. Vermuten lässt sich, dass diese Erkenntnis zu unterschiedlichen Reaktionen der Kinder führen kann, wodurch die Beziehung möglicherweise neu aufgebaut werden muss. Schlussfolgernd muss für die Kinder und Jugendlichen auch der Unterschied zwischen beiden Familien-Konstrukten (natürliche und familienanaloge Heimerziehungsfamilie) verwirrend sein. Sind die Kinder und Jugendlichen in einem Alter, in dem sie den Unterschied zwischen beiden Familien-Konstrukten bemerken und deuten können, so kann es durchaus bei Kindern, die ihre leiblichen Eltern noch haben und auch von diesen besucht werden, vorkommen, dass sie eine Negativhaltung zu ihrer natürlichen Familie entwickeln (Eßer & Köngeter, 2012, S. 38).
Die Begriffe Bindung und Beziehung treten in allen drei Bereichen (Familie, stationäre Heimerziehung und familienanaloge Erziehungshilfe) immer wieder in den Vordergrund (Krenz, 2010, S. 72). Positive Bindungserfahrungen sind für die jungen Menschen wichtig, um ihre persönlichen Kompetenzen aufzubauen und ihre eigene Individualität zu finden. Bestehen Beziehungsprobleme, erleiden, laut aktuellen Forschungen in der Entwicklungspsychologie, die jungen Menschen Entwicklungsstörungen, die ihnen die Entwicklung grundlegender Fähigkeiten erschwert. Um eine positive und nachhaltige Bindung aufzubauen, muss die Bezugsperson dem jungen Menschen gegenüber wertschätzend, respektvoll und achtsam sein (Krenz, 2010, S. 72). Nach König (2020, S. 14 – 24.) ist auch das Bedürfnis nach einer emotionalen Verbundenheit und Nähe ein menschliches Grundbedürfnis, das sich in den verschiedensten Arten sozialer Beziehungen manifestiert. Bindungspersonen geben dem jungen Menschen Sicherheit und stehen ihnen bei emotionaler Belastung zur Seite, sodass der junge Mensch mit ihnen eine Bindungsbeziehung eingehen kann. Der junge Mensch nutzt die Bindungsperson, um seine eigenen Gefühle zu regulieren oder sich zu schützen (König, 2020, S. 14 – 15).
So kann davon ausgegangen werden, dass die jungen Menschen, die in ihren Ursprungsfamilien keine oder nur unzureichende Bindungen zu den Bezugs- bzw. Bindungspersonen aufbauen konnten, später in ihrem Verhalten auffällig wurden (König, 2020, S. 14 – 15).
8. Fazit
Die vorliegende Bachelorarbeit erforscht die Geschichte der stationären Heimerziehung, die bis in die Antike zurückreicht. August Hermann Franckes „Hallisches Waisenhaus“ im 17. Jahrhundert markierte einen frühen Meilenstein in der planvollen Erziehung. Mit der Industrialisierung wurden viele Einrichtungen zu Produktionsstätten, während humanistische Ideen im 18. Jahrhundert durch Johann Heinrich Pestalozzi die Erziehung prägten. Die Weimarer Republik und das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1924) brachten Veränderungen in der Ersatzerziehung und ab 1968 / 1969 führte die Heimkampagne zu Verbesserungen. Die Kinder- und Jugendhilfe fand 1990 / 1991 im SGB VIII ihren Platz, wobei stationäre Einrichtungen im 21. Jahrhundert nur eine von vielen Optionen in der sozialen Arbeit sind (Kapitel 2).
Die Projektstudie „Demokratie in der Heimerziehung“ untersuchte zwei Einrichtungen, die „Wohngruppe Callisenstraße“ und der „Kinder- und Jugendhilfe-Verbund“ (KJHV) in Schleswig-Holstein. Beide strebten die Implementierung partizipativer Modelle in der Arbeit mit psychisch beeinträchtigten jungen Menschen an und die Ergebnisse zeigen, dass die Integration von
Partizipation möglich ist (Kapitel 3).
Die Entwicklung der familienanalogen Fremdunterbringung geht auf Vordenker wie Heinrich Pestalozzi und Johann Hinrich Wichern zurück. In den 1970er Jahren wurden die familienanalogen Erziehungshilfen weiterentwickelt und mit dem KJHV von 1990 / 1991 wurden Vollzeitpflege und Heimerziehung einander angeglichen. Eine familienanaloge Unterbringung bieten Erziehungsstellen (Kapitel 4).
Die Arbeit in der stationären Heimerziehung ist für pädagogische Fachkräfte aufgrund biografischer Beziehungserfahrungen und ‚Jugendlichenkonflikte‘ anspruchsvoll. Die Hauptaufgaben umfassen kompensatorische Erziehung, intensive Beziehungsarbeit und Sozialisation. Pädagogische Fachkräfte benötigen bindungssichere Persönlichkeiten, empathische Fähigkeiten und eine professionelle Haltung (Kapitel 5).
In der Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth wird die biologische Neigung von Kindern betont, Bindungen zu Pflege- und Bezugspersonen zu entwickeln. Die Theorie wird heute als Grundlage in der Entwicklungspsychologie und Pädagogik verwendet. Die kindliche Entwicklung der Ich-Kompetenz, des Selbstvertrauens und der Handlungsautonomie steht im Zentrum der Entwicklungspsychologie (Kapitel 6).
Der vorliegende Text aus Kapitel 6 untersucht verschiedene Formen von Beziehungen in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in Familien. Themen wie die Bedeutung von Beziehungen in der Kinder- und Jugendhilfe, verschiedene Arten von Beziehungen (Rollen- und persönliche Beziehungen) und die Rolle der Familie als Bildungseinrichtung werden diskutiert. Der Text betont die Herausforderungen und Besonderheiten in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, hebt die Bedeutung stabiler Beziehungen und Interaktionsmuster hervor und betont die Rolle von Beziehung und Identitätsbildung im pädagogischen Kontext. Die Unterschiede zwischen Bindung und Beziehung im Rahmen der Ursprungsfamilie und in der Heimerziehung können für junge Menschen schwierig sein, wobei die Unterschiede zwischen Familie und stationärer Heimerziehung größer erscheinen.
Das Thema stationäre Heimerziehung und familienanaloge Erziehungshilfen beschäftigte die Autorin seit ihrer Tätigkeit in der stationären Heimerziehung sehr, da sie das Bedürfnis der jungen Menschen nach Nähe und Zuwendung deutlich spürte, diesem aber nicht nachkommen durfte. Im Laufe der Zeit kam für sie die Frage auf, welche Art der Heimerziehung für die jungen Menschen die richtige sei. Selbstredend ist das Leben der jungen Menschen in ihren funktionierenden Ursprungsfamilien die beste Variante. Doch wenn diese Variante nicht möglich ist, gilt genauso, dass diese jungen Menschen schützenswert sind und ihnen das Recht auf ein glückliches Leben zusteht.
Nach eingehender Analyse der Literatur wird deutlich, dass die Forschungsfrage „Stationäre Heimerziehung oder familienanaloge Erziehungshilfe, welche der beiden Formen der professionellen Fremdbetreuung haben den positiveren Einfluss im Hinblick auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen?“ nicht klar beantwortet werden kann, da jeder junge Mensch seine individuellen Vorerfahrungen, seelischen Schäden und individuellen Eigenschaften hat. Wichtig ist, dass diesen jungen Menschen und deren Familien eine Unterstützung angeboten wird, sodass eine vertretbare Besserung der Lebensgestaltung eintritt.
Die Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass die stationäre Heimerziehung für junge Menschen eine Alternative zur negativ behafteten Ursprungsfamilie ist, wenn die Familie zusammen mit dem Jugendamt und dem Träger der Heimerziehung an dem Konstrukt der Familie arbeitet, sodass der junge Mensch in die Familie zurückgeführt werden kann und ein erfülltes Leben hat. Auch wäre die stationäre Heimerziehung als ‚Zwischenplatz‘ denkbar, in dem die Bedürfnisse und ‚Baustellen’ des jungen Menschen erkannt werden, um diese durch professionelle Hilfe zu stillen bzw. zu beheben.
Die familienanalogen Erziehungshilfen könnten eine realisierbare Möglichkeit für die jungen Menschen darstellen, die aufgrund von Erkrankungen, Tod etc. der Erziehungsberechtigten und / oder der Familienangehörigen nicht die Möglichkeit haben, zurück in die Ursprungsfamilie zu kommen, um dort so lange zu leben, bis sie nach dem Gesetz ausziehen dürfen.
Die Texte bieten eine umfassende Betrachtung von stationärer Heimerziehung und familienanaloger Erziehungshilfe. Jedoch geben sie keine direkte Auskunft darüber, welche der beiden Formen einen positiveren Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat. Zum einen hängt die Bewertung von verschiedenen Faktoren ab, darunter individuelle Bedürfnisse der betroffenen Kinder, die spezifischen Situationen und Qualitäten der Einrichtungen sowie die Professionalität der pädagogischen Fachkräfte. Zum anderen ist die Wirkung von stationärer Heimerziehung oder familienanaloger Erziehungshilfe auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stark von individuellen Faktoren sowie der Qualität der jeweiligen Einrichtung abhängig. Jeder Fall ist einzigartig, und die Bedürfnisse der betroffenen Kinder variieren oft sehr stark. Daher ist eine differenzierte Betrachtung unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände, der professionellen Betreuung und der individuellen Anforderungen angebracht.
Literaturverzeichnis
Literaturverzeichnis:
Anhang 1
Zur Info: Um rechtliche Probleme zu vermeiden, wird der Anhang 1 nicht abgebildet. Es handelt sich um eine E-Mail zwischen der Verfasserin dieser IU-Bachelorarbeit und dem Statistischen Bundesamt. Inhaltlich geht es um die Anfrage, in welchem Umfang die Statistik „Junge Menschen, die in Heimen oder Pflegefamilien aufwuchsen 2021“ in dieser Bachelorarbeit verwendet werden darf.
Anhang 2
Zur Info: Um rechtliche Probleme zu vermeiden, wird der Anhang 2 nicht abgebildet. Es handelt sich um die Broschüre „Demokratie in der Heimerziehung“ – Dokumentation eines Praxisprojektes in fünf Schleswig-Holsteinischen Einrichtungen der stationären Einziehungshilfe. Herausgeber: Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein
Eidesstaatliche Erklärung
Hiermit versichere ich an Eides statt, dass ich die Abschlussarbeit selbständig und ohne Inanspruchnahme fremder Hilfe angefertigt habe. Ich habe dabei nur die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet und die aus diesen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht. Die Arbeit hat in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen. Ich erkläre mich damit einverstanden, dass die Arbeit mit Hilfe eines Plagiatserkennungsdienstes auf enthaltene Plagiate überprüft wird.
Kolloquium zur bewerteten IU-Bachelorarbeit
Laut unserer Kommilitonin wurde das Kolloquium, gleich wie in den IU-Vorgaben beschrieben, durchgeführt.
Die Erstellerin der Bachelorarbeit präsentierte online vor Korrektor (Betreuer der Bachelorarbeit) und Co-Korrektor ihre Bachelorarbeit (für ca. 15 Minuten). Im Anschluss stellten die beiden Korrektoren passende Fragen zur Arbeit.
Durch den bereits engen Austausch mit dem Betreuer während der Ausarbeitung der Bachelorarbeit, war der Verlauf im Kolloquium sehr angenehm und fair.
Die Benotung des Kolloquiums und der gesamten Arbeit folgte im Anschluss.
Bewertung / Kommentare zur IU-Bachelorarbeit
Die vorgestellte IU Bachelorarbeit aus dem Studiengang Soziale Arbeit wurde mit 80,44 von 100 Prozent bzw. der Note 2,3 bewertet.
Kommentar zur schriftlichen IU-Bachelorarbeit:
– Der Methodenteil fällt zu kurz aus.
Bewertung / Note der schriftlichen IU-Bachelorarbeit (Gewichtung 90 %):
– Punkte 78,80 von 100 – Note 2,3
Bewertung / Note des Kolloquiums (Gewichtung 10 %):
– Punkte 95,25 von 100 – Note 1,3
Bewertung / Note der gesamten IU-Bachelorarbeit:
– Punkte 80,4 von 100 – Note 2,3
Fazit
Vielen lieben Dank an unsere IU-Kommilitonin. Durch Ihre Unterstützung ist wieder ein außergewöhnlich hilfreicher Blog-Beitrag entstanden.
Ganz nach dem Motto des Blogs.
Gehen wir gemeinsam, nicht einsam durchs Fernstudium.
Geben und Nehmen ist einer der wichtigen Faktoren im Fernstudium.
Fakt ist – durch regelmäßigen Austausch kommst du einfacher und schneller zum Abschluss.
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Noch eine Bitte zum Schluss:
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Gemeinsam, nicht einsam durchs Fernstudium
Liebe Grüße
Dein Michael – ehemaliger IU Fernstudent
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Um dich zu unterstützen, teilt er hier seine Erfahrungen mit dem wissenschaftlichen Arbeiten im Fernstudium. Durch sein Motto „ich mach weiter“, überzeugt er seine Leser vom lebenslangen Lernen und unterstützt Sie auf dieser Reise.
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